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Russische Emigration

Unsentimental und mit genau beobachteten Details fängt Nina Berberova die Atmosphäre im Paris der 1930er Jahre im Milieu der Emigranten ein. Der junge Emigrant Astaschew steht sinnbildlich für Egoismus und Skrupellosigkeit, der Grundstock für seine Begeisterung für den Faschismus.

Von Karla Hielscher | 05.04.2007
    Der Literatur der russischen Emigration wurde bei uns jahrzehntelang viel zu wenig Beachtung geschenkt. Die westeuropäische Intelligenz hat die gesamte reiche Kultur der Emigranten lange Zeit sträflich missachtet und unterschätzt. Dabei hätte deren gewichtige Stimme manche fatale Fehleinschätzung der Sowjetunion und ihrer Politik verhindern können.

    Nina Berberova als eine der wichtigsten Repräsentantinnen dieser Kultur war bekannt oder sogar befreundet mit den bedeutendsten Persönlichkeiten der russischen Emigration: mit dem Politiker Kerenskij und dem Maler Alexander Benois, sie lebte mit ihrem Mann monatelang bei Maxim Gorkij in Bad Saarow und Sorrent, sie kannte Mereschkowskij und Bunin, Remisow und Nabokov, der sie in einer Rezension "die Hoffnung des russischen literarischen Paris" nannte. Es ist symptomatisch, dass man erst seit den 80er Jahren in Frankreich begann, Nina Berberova zu übersetzen. Inzwischen gibt es ihre Bücher in 20 Sprachen.

    Nina Berberova hat ein vielseitiges Werk als Lyrikerin, Prosaautorin, Essayistin und Literaturwissenschaftlerin hinterlassen. Von ihr stammen Biographien von Tschaikowskij und Borodin, historisch dokumentarische Sachbücher über den politischen "Fall Krawtschenko" und das Freimaurertum in Russland, Romane und Erzählungen aus dem Leben der russischen Emigration.

    Ihre Autobiographie "Kursiv moj" (deutsch unter dem Titel "Ich komme aus St. Petersburg" erschienen) ist ein einzigartiges Zeugnis über das dramatische Schicksal ihrer in zwei Welten lebenden Generation der russischen Intelligenzija und die geistigen Auseinandersetzungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Es ist dem Wagenbach Verlag zu danken, dass er seit einigen Jahren versucht, das Prosawerk der Berberova - nun in gefälligen Taschenbuchausgaben - an den Leser zu bringen.

    "Astaschew in Paris" gehört zu der in der russischen Erzähltradition verbreiteten Gattung der Povest´, des Kurzromans. Er entstand 1938, erschien jedoch erst 1947 in einem Sammelband ihrer Prosa und spielt - wie fast alle ihre Bücher - im Milieu der russischen Emigration. Sein eigentlicher Titel lautet "oblegcenie ucasti", wörtlich übersetzt "Erleichterung des Schicksals", was dem Kern des Textes genauer entspricht.

    Der in Petersburg aufgewachsene Emigrant Alexej Petrowitsch Astaschew hat sich nämlich nach bitteren Anfängen sein Leben im Westen erfolgreich eingerichtet, indem er mit großer Eloquenz und Geschicklichkeit Lebensversicherungen an reiche Russen verkauft. Er macht also im eigentlichen Sinne Geschäfte mit dem Tod. Die Erzählung ist die Charakterstudie eines dickhäutigen, selbstgerechten Erfolgsmenschen, der herzlos und ungerührt eine Frau, die ihn liebt, in den Selbstmord treibt. Unter prekären familiären Bedingungen aufgewachsen - der Vater hat die Familie früh sitzengelassen und der junge Astaschew fühlt sich völlig zuhause im lasterhaften Milieu seiner Stiefmutter - hat er es gelernt sich überall, wo es ihm nützlich scheint, anzupassen. Der korrekte Versicherungsagent mit Melone, Regenschirm und Aktentasche ist ein aalglatter, geistloser Karrierist, der skrupellos seine Macht über andere Menschen ausspielt.

    Dabei ist das Vorbild der Prosa Dostojewskijs - etwa in den um die großen Lebensrätsel kreisenden Dialogen des Versicherungsagenten mit seinen Klienten - durchaus spürbar. Astaschew in seiner selbstzufriedenen, platten Oberflächlichkeit, dem es nur darum geht "auf die vorteilhafteste und bequemste Weise auf den Tod vorzubereiten" und sich selbst damit ein leichtes Leben zu verschaffen, ist aber eben kein tiefsinniger dostojewskijscher Bösewicht, sondern der moderne Typ des berechnenden gemeinen Aufsteigers.

    Damit wird schon eine Besonderheit des Werks der Berberova deutlich: die erfahrungsreiche, weltoffene Russin bedient nämlich - obwohl all ihre Themen eng mit Russland verbunden sind - eben nicht das so verbreitete Klischee von der russischen Seele.

    Unsentimental und mit genau beobachteten Details fängt sie die Atmosphäre im Paris der 30er Jahre im Milieu der Emigranten ein und findet immer wieder Bilder der symbolischen Überhöhung, wie etwa die Stiefelmetapher.

    Denn es ist vor allem auch die politische Dimension des in der Hochzeit des Faschismus und Stalinismus entstandenen Textes, der seine eigentliche Brisanz ausmacht. Der russische Emigrant Astaschew begeistert sich nämlich beim Zeitungslesen für den "Mann mit den wunderbaren Militärstiefeln, der Tausende von Männern mit gleichen Militärstiefeln grüßt". Er gehört zu denen, "die im Gleichschritt marschieren und im Chor singen wollen", der von Macht und Ordnung träumt und danach giert, sich "einer höheren Disziplin zu unterwerfen".

    Astaschew ist der Typ, der sich in jedem System erfolgreich anpasst und funktioniert und damit totalitäre Herrschaft möglich macht. Diese für den Text so wesentliche Dimension wird durch die geglättete Übersetzung, die russische Besonderheiten tilgt und an einigen Stellen sogar fehlerhaft ist, leider zu wenig deutlich. Aber Nina Berberova zu lesen lohnt sich!