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Russische Opposition
Irina Slawina - Selbsttötung einer Journalistin

Als einzige Redakteurin ihres Online-Magazins bereitet die russische Journalistin Irina Slawina lokale und regional Themen der Stadt Nischni Nowgorod unabhängig auf - darunter auch kritisches über Staatschef Wladimir Putin. Vor einer Polizeizentrale hat sich die 47-Jährige selbst in Brand gesetzt.

Von Thielko Grieß | 05.10.2020
Blumen und ein Porträt der Chefredakteurin der Webseite Koza-Press , Irina Slavina, vor dem Büro des russischen Innenministeriums.
Mit Blumen und Fotos erinnern Menschen an die russische Journalistin Irina Slawina (imago / Mikhail Solunin/TASS )
Ihr letzter selbst verfasster Eintrag auf Facebook lautet, ins Deutsche übersetzt: "Ich bitte darum, wegen meines Todes die Russische Föderation zu beschuldigen." Diesen kurzen Satz veröffentlichte Irina Slawina am Freitag vergangener Woche (02.10.2020).
Wenige Minuten später nahm die Frau auf einer Bank Platz, wie ein Video zeigt. In einem Mantel sitzt sie vor dem Gebäude der Regionalabteilung des russischen Innenministeriums in Nischnij Nowgorod. Das ist eine Millionenstadt etwa 400 Kilometer östlich von Moskau. Dann steckt die Frau ihren Mantel und damit sich selbst in Brand.
Irina Slawina, die 47 Jahre alt wurde, war Journalistin aus Überzeugung – unbeirrbar und kritisch. Im März 2018 trafen wir uns zu einem Interview. Zu diesem Zeitpunkt stand Russland kurz vor der Präsidentschaftswahl und drei Monate vor der Fußball-Weltmeisterschaft. Auch Nischnij Nowgorod wurde Austragungsstadt. "Wir verbreiten Themen mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen", sagte sie. "Wir tun so, als sei alles in Ordnung."
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Unabhängige Aufbereitung lokaler Themen
Slawina musste sich ständig mühen, ihr Onlinemagazin "Koza.Press" am Leben zu erhalten. Sie hatte es gegründet, und sie war dessen einzige Redakteurin. Als praktisch einziges Medium bereitete sie lokale und regionale Themen der Stadt unabhängig auf. Sie finanzierte ihre Arbeit mit Crowdfunding und ein wenig Reklame, doch ohne die Unterstützung ihrer Familie hätte es nicht funktioniert. Die großen Medien der Stadt sind staatlich gelenkt; bei ihnen ist Zensur an der Tagesordnung.
Während die also im März 2018 staatlich erwünschte Vorfreude auf die WM verbreiteten, schrieb Slawina darüber, wie die Vorbereitungen teilweise hastig und oberflächlich verliefen: "Jetzt, da die WM vor der Tür steht, werden die Verantwortlichen Hausfassaden erneuern. Es wird viel Geld ausgegeben, einfach um Fassaden anzustreichen. Aber sie werden nur von der Straße her erneuert. Die Hinterhäuser wird niemand erneuern."
Mit der Zeit wurde ihr Magazin immer beliebter. Doch was sie tat, missfiel der Staatsmacht. Also geschah, was Menschenrechtlern, Oppositionellen und Journalisten in Russland fast überall und fast ständig passiert: Irina Slawina geriet unter massiven Druck, der Staat überzog sie mit Prozessen. Es ging um ihre Artikel, auch um einen Post bei Facebook, oder auch darum, dass sie öffentlich an den erschossenen liberalen Politiker Boris Nemzow erinnerte, der aus Nischnij Nowgorod stammte. Die Journalistin musste viele Geldstrafen zahlen und auch einmal kurz in Polizeigewahrsam.
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"Die Luft um mich herum wird immer knapper"
Reporter ohne Grenzen porträtierte sie in einer Analyse über die kaum noch vorhandene Pressefreiheit. Der "Spiegel" führte mit ihr im Herbst des vergangenen Jahres dann ein Gespräch:
"Die Luft um mich herum wird immer knapper, bald bricht alles zusammen, und ich werde physisch nicht mehr können. Sie erdrücken mich. Ich warte nur ab, ob mein Projekt bis zum Frühjahr überleben wird, weil seine Gründung dann fünf Jahre zurückliegen wird. Ich frage mich, überleben ich und mein Projekt bis dahin? Ehrlich gesagt, Hoffnung gibt es keine."
Das Frühjahr und den Sommer über arbeitete sie noch weiter. Doch der vergangene Donnerstag begann mit einer Durchsuchung: Früh morgens um sechs Uhr verlangte ein Dutzend Ermittler Zutritt zu ihrer Wohnung – sie standen mit Metallkreissäge und Brecheisen vor der Tür. Sie stellten alles auf den Kopf, beschlagnahmten Computer, Handys, Notizen und USB-Sticks. Ihren Anwalt durfte Slawina nicht anrufen. Es ging bei Durchsuchung um einen Prozess, in dem sie als Zeugin auftrat.
Am nächsten Tag tötete sie sich selbst.
An der Stelle, wo sich Irina Slawina in Brand steckte, legten Menschen Blumen nieder und stellten Kerzen auf. Aber auch diese öffentlich sichtbare Trauer durfte nicht sein: Die Polizei in Nischnij Nowgorod räumte die Gedenkstätte wieder ab. Die Journalistin hinterlässt ihren Ehemann, eine Tochter und einen Sohn.