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Russische Taxifahrer bei der FIFA WM
Billiglöhner auf Moskaus Straßen

Der Moskauer Verkehr ist täglich eine harte Probe für Geduld und Gemüt - auch für Fußball-Fans und Taxifahrer. Die Stadt hat vor der FIFA WM rund 5.000 von ihnen mit einem kurzen Englisch-Kurs fortgebildet. Gut gemeint, aber wenig effektiv in einer Branche, in der ein enormer Preiskampf herrscht.

Von Thielko Grieß | 25.06.2018
    Russische Fans feierten den Erfolg ihres Teams gegen Ägypten auf Moskaus Straßen
    Russische Fans feierten den Erfolg ihres Teams gegen Ägypten auf Moskaus Straßen (dpa / TASS / Mikhail Pochuyev)
    Einen Fan anzusprechen soll auch zur Tageszeit passen.
    "Guten Morgen, guten Tag, guten Abend."
    In einem nüchternen Schulungsraum stehen vorn zwei Englischlehrerinnen vor weit mehr als 100 Taxifahrern, die in Stuhlreihen sitzen. Die Fußball-WM beginnt in einem guten Monat. Und es läuft wie in vielen Klassenräumen auf dieser Welt, zumal der Kurs die Teilnehmer nichts kostet: Je weiter hinten sie sitzen, desto eher gilt ihre Aufmerksamkeit allem, nur nicht dem vorn Gesagten.
    "Bringen Sie mich bitte zum Flughafen Scheremetjewo."
    In einer Handreichung sind die wichtigsten Sätze des Gewerbes aufgeführt: Wohin soll's gehen? Was kostet es? Und als Geste extra für Fußballfans: Good luck to your team! Alle Taxifahrer in diesem Englisch-Kurs sind Männer. Darunter Alim.
    "Hello ..."
    Gut gemeint, aber wenig effektiv
    In Alims Schule vor Jahrzehnten wurde Englisch nicht unterrichtet. Er befördert nun seit gut zwanzig Jahren Fahrgäste durch die russische Hauptstadt und hat eine Biografie, die Hunderttausende so oder ähnlich teilen: Er stammt aus einer früheren Sowjetrepublik, wo seine Familie nach wie vor wohnt. Alim ist Gastarbeiter, fährt fast jeden Tag, verdient wenig und überweist dennoch Geld nach Hause. Würden sie alle Russland plötzlich verlassen, es führe wohl kaum noch ein Taxi oder Lkw; und Baustellen wären verwaist.
    Der gut gemeinte, aber wenig effektive Unterricht wird für eine Viertelstunde unterbrochen. Raucherpause. Und Zeit zum Reden draußen im Hof. Dort parkt, wie ein gelbes Meer, ein Auto neben dem anderen, alle lackiert im Gelb der Moskauer Taxis.
    "Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Auto", sagt Alim nicht ohne Stolz und öffnet seinen Mittelklassewagen. Danach beginnt er, sehr ehrlich aus seinem Alltag zu erzählen. Wir haben seine Stimme und seinen Namen verändert, weil seine Offenheit ihn leicht seinen wertvollen Arbeitsplatz kosten könnte. Alim arbeitet in einer Branche, in der enormer Preiskampf herrscht. Eine Taxifahrt vom Moskauer Zentrum zum Flughafen Scheremetjewo, Entfernung etwa 35 Kilometer, kostet nicht mehr als umgerechnet 15 Euro.
    Taxis werden per App bestellt
    Die Zeiten des Heranwinkens von Taxen am Straßenrand sind längst vorüber. Wer in Moskau ein Taxi braucht, bestellt in aller Regel auf seinem Smartphone über eine App bei einem der drei großen Konzerne Gett, Yandex oder Uber – wobei die beiden letzten inzwischen zusammen gehören. Das schwächste Glied in dieser Kette: der Mann, selten eine Frau, am Steuer.
    "Was meinen Gewinn angeht … Na, zum Beispiel habe ich innerhalb einer Woche 37.000 Rubel, gut 500 Euro, eingenommen. Davon muss ich aber die Miete für das Auto abziehen, täglich 27 Euro. Und von jeder Fahrt bekommt der Konzern 23 Prozent. Darüber hinaus eine monatliche Einmalzahlung und Benzin. Also: Mir bleiben 45.000 bis 50.000 Rubel im Monat in der Tasche, höchstens 675 Euro. Mehr ist schwerlich zu verdienen."
    Zwar regeln behördliche Vorgaben die Lenkzeit der Fahrer, aber kontrolliert werden sie kaum.
    "Man muss mindestens 14, 15 oder 16 Stunden am Steuer sitzen. Das Geld bereits nach zehn Stunden verdient zu haben, ist unmöglich. Das geht schon wegen der Staus nicht."
    Autoschlangen und weite Wege
    Kilometerlange Wagenschlangen auf mehrspurigen Straßen, weite Wege und zwischen Oktober und April widrige Wetterbedingungen: Der Moskauer Verkehr ist täglich eine harte Probe für Geduld und Gemüt. Alim fährt meistens nachts, dann fahre es sich leichter, sagt er. Doch immer wieder machen Geschichten von am Steuer eingeschlafenen Fahrern die Runde. Als vor gut einer Woche ein Taxi in der Innenstadt über einen Bürgersteig fuhr und sieben Fußgänger verletzte, erklärte der inzwischen in Haft sitzende Fahrer, er habe zu dem Zeitpunkt bereits 20 Stunden gearbeitet.
    Alim steht an seiner geöffneten Fahrertür und erzählt, wie er manchmal gering geschätzt wird, weil er eben kein Einheimischer ist, kein Russe. Auch das gehört zum Alltag vieler Einwanderer in Moskau. Und: Das Internet macht ihre Arbeit transparent – aber auch schonungsloser. Nach jeder Tour kann ein Passagier den Fahrer mit bis zu fünf Sternen bewerten. Jeder Stern ist bares Geld wert.
    "Das ist sehr wichtig. Ob unser Unternehmen uns einen Zuschlag zahlt, hängt von der Bewertung ab. Wenn sie niedrig ist, bekommen wir keinen Zuschlag."
    Wiedersehen mit Alim bei der WM
    Vor wenigen Tagen dann ein Wiedersehen mit Alim – seine Laune ist ausgezeichnet. Die Weltmeisterschaft hat begonnen, und viele Fans saßen auch schon in seinem Taxi: Eine Frau, die glaubte, Jekaterinburg im Ural sei gut mit dem Taxi zu erreichen, hat er zum Flughafen gefahren. Und die drei betrunkenen Schweizer ohne Orientierung in ihr Hotel. Englisch spricht er nicht, aber das übernehme das Handy.
    "Sie haben alle eine App, die Englisch und Russisch übersetzt. – Null Problem – alles super!"
    Seit die WM läuft, ist in Moskau eine gelöstere Atmosphäre spürbar. "Das Wichtigste ist, dass der Geist, das Gemüt sich öffnen. Das ist so interessant, die ganzen Ausländer zu sehen. Schauen Sie, mir haben sie einen Schal geschenkt."
    Auf dem grünen Schal, den er aus seinem Handschuhfach fingert, steht "Mexiko". Ausgerechnet. Geschenkt von glücklichen Mexikanern nach dem Sieg über die Deutschen.
    Unsere Fahrt endet am Gelände des Fan-Fests. Den Geldschein, den ich für die Strecke übergebe, küsst er drei Mal und legt ihn dann sicher zur Seite. Das mache er immer so nach der ersten Tour, sagt Alim. Es war die erste Fahrt dieser Nacht. Bis morgen um sieben oder acht Uhr will er am Steuer sitzen.