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Russisches Hockey
Über den Verfall eines Kultsports

Das in Deutschland bekannte Eishockey hat einen kleinen Bruder: "Bandy". Gespielt wird mit je elf Spielern auf einem Feld, das in etwa die Größe eines Fußballfeldes hat, aber auf Eis. Keine Scheibe, kein Puck, sondern ein meist rot leuchtender Ball. Russlands Liga galt als stark. Aber das ist Vergangenheit. Nun hat ein Skandalspiel in Russland viele Schlagzeilen gemacht.

Von Thielko Grieß | 04.03.2017
    Russische Bandy-Spieler jagen auf dem Eis einem kleinen roten Ball hinterher. Bandy ist eine Mischung auf Eishockey und Fußball und besonders in Nord- und Osteuropa populär.
    Russische Bandy-Spieler (imago stock&people)
    Eishockey-Stadion Archangelsk am vergangenen Wochenende. Die Gastgeber, deren Team sich "Wodnik" nennt, empfangen die Mannschaft aus Irkutsk, "Baikal-Energie". In der zweiten Hälfte steht es 0:3 für die Gäste. Doch schon diese Tore haben die Gastgeber ins eigene Tor geschossen. Und dann geht es Schlag auf Schlag: Ab der 77. Minute fällt ein Tor nach dem anderen…
    "Ist so ein Alptraum vorstellbar? Ich muss zugeben, ich hätte nie gedacht, dass ich je so ein Antispiel erlebe. Es ist die 78. Minute. Alles hat sich gedreht." Die Gäste vom Baikal machen es wie die Gastgeber und schießen innerhalb weniger Minuten neun Eigentore. Dann beschießen wieder die Gastgeber ihr eigenes Tor.
    "Solche Spiele muss man im Stadion sehen! Diesen Exzess muss man beenden. Wozu so eine Verhöhnung? Das ist hier ist keine Kreisliga, keine Bezirksliga, das ist die Superliga!" Der Endstand nach 90 Minuten lautet 9:11. Die Gäste vom Baikalsee haben gewonnen, weil die Gastgeber mehr Eigentore erzielt haben. "Unser Russisches Hockey stirbt nach dem heutigen Tag, wenn wir schweigen."
    Verband annulliert Skandalpartie
    Was war geschehen? Beiden Mannschaften ging es darum, mit einer eigenen Niederlage die Position in den Play-Offs zu verbessern, weil das nächste Spiel dann gegen einen leichteren Gegner stattfindet. Dimitrij Minin, Direktor des Hockeyclubs Archangelsk, sagt, die Schuld an den Manipulationen trage letztlich der Verband: "Die ganze Verantwortung für das gestrige Ergebnis trage natürlich ich als Mannschaftsleiter. Ich habe veranlasst, Eigentore zu erzielen. Aber das ist unser Protest dagegen, dass alles schon im Voraus feststeht. Denn der Verband hat genaue Vorstellungen davon, wie das Spiel ausgehen soll."
    Ein Angriff gegen den Verband. Der reagierte wenig später und annullierte das Skandalspiel, sperrte beide Trainer für zweieinhalb Jahre, den Direktor des Vereins, der den Vorwurf artikuliert hatte, sowie mehrere Spieler beider Mannschaften für mehrere Monate. Dies ist der jüngste Tiefpunkt in der Geschichte eines Sports, der einmal groß war in Russland.
    Hilferuf an Präsident Putin
    Ein Ausschnitt aus einem Spiel zwischen den beiden Teams vor 18 Jahren. Das Stadion ist voll, die Fans haben sich schon Stunden vor Spielbeginn ihren Platz gesichert. Russisches Hockey war früher einmal populär. Das hat sich geändert, wofür russische Medien eine Reihe von Gründen sehen: Die Spielqualität nimmt ab, weshalb gute Spieler ihr Geld lieber im Ausland verdienen. Unattraktive Spiele verlieren Sendeplätze im Fernsehen, dann springen Sponsoren ab – in jüngerer Vergangenheit mussten etliche Clubs schließen.
    Verbandschef Boris Skrynnik regiere selbstherrlich und bevorzuge einzelne Vereine. Darüber hinaus versprühen viele Stadien zwar alten Charme, aber sie locken bei fehlender Überdachung weniger Menschen zu den Spielen, zumal im russischen Winter. Inzwischen gehen Hilferufe sogar nach Moskau: "Wir, die Spieler des Clubs Jenissej Krasnojarsk, möchten uns an alle Fans und an den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Wladimirowitsch Putin, wenden."
    So beginnt ein Hilferuf auf Youtube, mehr als 80.000 Mal aufgerufen. Das Spiel mit den vielen Eigentoren nennen sie "männliches Handeln", fordern saubere Spiele und schließen mit dem Appell: "Sehr geehrter Wladimir Wladimirowitsch, helfen Sie uns, retten Sie uns und das Russische Hockey. Nur zusammen mit Ihnen sind wir dieser Aufgabe gewachsen."
    Putins Sprecher erklärte, so etwas gehöre nicht zu den präsidialen Aufgaben. Inzwischen wurde das Spiel wiederholt, auf neutralem Boden in der Nähe von Moskau. Baikal-Energie gewann wieder gegen Wodnik Archangelsk, diesmal mit 4:3. Es fielen keine Eigentore.