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Russland: "Natürlich kann man nicht von fairen Wahlen ausgehen"

Von fairen Wahlen bei der Präsidentschaftswahl in Russland geht Jens Siegert von der Heinrich-Böll-Stiftung nicht aus. Wladimir Putin habe im Vergleich zu seinen Gegenkandidaten bereits im Vorfeld große Vorteile gehabt. Für die Zukunft hoffe Siegert auf mehr Demokratiebewegung aus der Zivilgesellschaft.

Jens Siegert im Gespräch mit Martin Zagatta | 03.03.2012
    Martin Zagatta: Morgen wird in Russland ein neuer Präsident gewählt, kein ganz so neuer, denn nach 2000 und 2004 will sich Wladimir Putin zum dritten Mal in dieses Amt wählen lassen. Wie ihm das gelingt und was das bedeutet, das wollen wir uns jetzt von Jens Siegert erläutern lassen, dem Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Guten Morgen, Herr Siegert!

    Jens Siegert: Guten Morgen!

    Zagatta: Herr Siegert, bei der Dumawahl, bei der Parlamentswahl im Dezember soll es massive Wahlfälschungen gegeben haben, seitdem haben die Proteste kein Ende mehr. Wird das jetzt etwas ändern, also kann man von einigermaßen fairen Wahlen ausgehen? Wie sehen Sie das?

    Siegert: Nein, natürlich kann man nicht von fairen Wahlen ausgehen. Das liegt aber auch gar nicht mal so sehr daran, ob dann nun morgen tatsächlich gefälscht wird – ich gehe davon aus, dass gefälscht wird –, sondern dass schon der gesamte Prozess nicht fair ist. Ein Kandidat, Wladimir Putin, hat so große Vorteile, dass man von einer fairen Wahl nicht mehr sprechen kann. Zum Beispiel taucht er etwa 70 Prozent der Zeit, die im Fernsehen über die Kandidaten gesprochen wird, auf, und zwar meistens positiv, über seine Gegenkandidaten wird eher negativ berichtet, aber schon bei der Kandidatenauswahl hat die Administration sehr gut gesiebt – von fairen Wahlen kann man schon deshalb nicht sprechen.

    Zagatta: Gibt oder gäbe es überhaupt eine ernsthafte Alternative zu Putin?

    Siegert: Wie ich eben gerade schon gesagt habe, der Kreml hat gut ausgewählt beziehungsweise Wladimir Putin und seine Leute haben ausgewählt. Ich denke, eine Alternative gibt es immer, wenn es denn die entsprechenden Möglichkeiten gibt, sich zu entwickeln. Da aber in den vergangenen zwölf Jahren – und man muss die zwölf Jahre nehmen, die Wladimir Putin an der Macht ist, auch die letzten vier Jahre war er ja als Premierminister an der Macht –, gab es keine Politik in Russland. Es war verboten, öffentlich Politik zu machen, da kann sich auch keine Alternative entwickeln.

    Zagatta: Wen wählen denn jetzt die Hunderttausende, die gegen Putin auf die Straße gegangen sind, oder gehen die da erst gar nicht zur Wahl?

    Siegert: Da gibt es eine ganz lebhafte Diskussion darüber, was man machen soll. Es gibt viele Leute, die boykottieren wollen, es gibt andere, die sagen, man sollte für irgendeinen Kandidaten stimmen, nur nicht für Wladimir Putin, um möglichst viele Gegenstimmen zu erzeugen und so auch über das Ergebnis zu zeigen, dass das alles nicht mehr ganz konkurrenzlos ist. Wie sich die Leute letztendlich verhalten werden, das müssen wir morgen abwarten.

    Zagatta: Herr Siegert, bei der Parlamentswahl, da sind ja die Kommunisten zweistärkste Kraft noch geworden, hinter der Putin-Partei Einiges Russland, welche Rolle spielen die russischen Kommunisten da im Moment, inwiefern haben die sich gewandelt?

    Siegert: Gewandelt haben sie sich kaum. Es ist der gleiche Vorsitzende seit Anfang der 90er-Jahre, Gennadi Zuganow, der jetzt auch wieder gegen Putin antritt – ich weiß nicht, zu wievielten Mal er jetzt als Kandidat antritt –, der auch alte kommunistische Losungen weiterhin hat, aber es ist eine der wenigen noch organisierten politischen Kräfte, die es gibt, die auch eben an Wahlen teilnehmen dürfen.

    Zagatta: Und auf Dmitri Medwedew, den scheidenden Präsidenten, ruhten ja durchaus Hoffnungen, er würde Russland liberaler, demokratischer machen. Wie sehen Sie seine Rolle heute, ist er eine Marionette Putins gewesen, wenn er jetzt abtritt, oder hat er seine Verdienste?

    Siegert: Das Urteil hat er eigentlich selbst gesprochen, am 24. September, als er erklärte, dass er Putin für den besseren Präsidenten halte und dass das schon vor vier Jahren abgesprochen gewesen sei, dass er nur vier Jahre da sitzen würde und dass Putin dann wieder Präsident werden würde. Das ist eigentlich ganz eindeutig, dass er nur eine Marionette ist. Er hat seine Verdienste, aber vielleicht nicht ganz freiwillig, denn mit ihm waren diese Hoffnungen verbunden auf eine liberale Öffnung. Diese Hoffnungen sind schwer enttäuscht worden, und ich denke, dass diese Enttäuschung eine Rolle spielt jetzt bei diesen Protesten, dass die Leute jetzt doch auf die Straße gehen.

    Zagatta: Wie würden Sie Russland heute bezeichnen? Also als Rechtsstaat wahrscheinlich nicht, nach allem, was Sie da gerade gesagt haben. Wie soll man Russland heute beschreiben? Ist das noch eine Diktatur, ist das eine gelenkte Demokratie oder wie bezeichnen Sie das?

    Siegert: Als gelenkte Demokratie würde ich es nur in Anführungszeichen beschreiben, weil ich denke, dass Demokratie keine Attribute verträgt. Russland ist heute ein autoritäres Land, demokratisch kann man es nicht nennen, denn es gibt keine demokratische Wahl weder des Parlaments noch des Präsidenten, aber die Menschen leben selbst in ihrem privaten Leben einigermaßen frei. Insofern ist es auch nicht richtig eine Diktatur. Es ist ein bisschen schwierig – es ist etwas dazwischen. Die Soziologen und Politologen sprechen dabei von einem hybriden, einem Zwischensystem.

    Zagatta: Das Internet, vor allem soziale Medien, soweit sie nicht völlig unterdrückt werden, verändern ja autoritäre Gesellschaften gewaltig. Inwieweit ist das auch in Russland der Fall?

    Siegert: Ja, das Internet spielt eine große Rolle – spielt eine große Rolle jetzt bei den Protesten, aber auch schon in den Jahren zuvor bei den Diskussionen. Es ist tatsächlich frei, das Internet, man kann dort praktisch alles machen und alles tun, was man will, mit der kleinen Einschränkung, dass vor allen Dingen in letzter Zeit es immer wieder Attacken auf oppositionelle und kritische Websides gegeben hat. Aber zum Beispiel die Proteste werden fast vollständig über soziale Netzwerke wie Facebook, oder es gibt ein sehr großes Netzwerk in Russland, das heißt VKontakte, "Wir bleiben in Kontakt", organisiert. Und dort finden auch sehr lebhafte Diskussionen statt, dort werden viele Witze gemacht, auch Witze über Wladimir Putin, da ist es sehr lebendig.

    Zagatta: Herr Siegert, Ziel Ihrer Stiftung und anderer Stiftungen, deutscher Stiftungen in Moskau ist es ja, Demokratiebewegungen auch zu stärken. Auf wen setzen Sie da in der kommenden Zeit, auf wen setzen Sie da Ihre Hoffnungen?

    Siegert: Nicht nur in der kommenden Zeit, sondern insgesamt setzen wir unsere Hoffnungen natürlich auf das, was man allgemein Zivilgesellschaft nennt, das heißt also Initiativen, die sich in vielen Bereichen für mehr Freiheit, für mehr Demokratie, für vor allen Dingen klare Spielregeln, die dann auch eingehalten werden, einsetzen. Davon gibt es sehr, sehr viele, und die entwickeln sich auch unter einem gewissen Druck, in der Hoffnung natürlich, dass wenn es dann zu einer politischen Öffnung kommt – und der Druck wird eben stärker durch diese vielen Menschen auf der Straße –, dass sich daraus dann auch politische Organisationen und politische Parteien entwickeln können.

    Zagatta: Jens Siegert, der Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Herr Siegert, vielen Dank für diese Informationen und Einschätzungen!

    Siegert: Bitte schön!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.