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Russland
Putins vermeintliche Gnade

Zehntausende Häftlinge sollten freikommen, Hunderttausenden ihre Bewährungsstrafen erlassen werden. Das versprach Wladimir Putin zum 70. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg. Doch die vermeintlich größte Amnestie in der russischen Geschichte lässt auf sich warten.

Von Mareike Aden | 02.06.2015
    Wladimir Putin bei der Militärparade zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs, 9. Mai 2015.
    Amnestien haben Tradition in Russland, es gab sie schon in Sowjetzeiten zu Jubiläen und Feiertagen. (imago/stock&people/ITAR-TASS)
    Ein Büro mit mehreren Schreibtischen, an den Wänden Karikaturen von Wladimir Putin, auf dem Boden Kartons mit Kleiderspenden. "Rus Sidjaschaja" - "Russland hinter Gittern" - heißt die Moskauer Organisation und Selbsthilfegruppe für Häftlinge und deren Verwandte, die hier ihr Hauptquartier hat. Die Amnestie ist im Moment das Hauptthema. Doch obwohl die Staatsmedien seit Monaten berichten, dass Zehntausenden Verurteilten die Strafe erlassen werde, stießen viele Häftlinge in der Realität auf Probleme, berichtet Olga Romanowa, Gründerin von "Rus Sidjaschaja":
    "Sie haben zu hundert Prozent Anspruch auf die Amnestie und die tritt eigentlich in Kraft, sobald sie in der Zeitung veröffentlich wurde. Und das geschah am Siegestag, am 9. Mai. Aber irgendjemand hat sich ausgedacht, dass in jedem Einzelfall ein Staatsanwalt darüber entscheiden muss. Putins Wort reicht auf einmal nicht. Nun müssen die Verwandten alle möglichen Dokumente vorlegen. Zum Beispiel das Urteil im Original, und so weiter. Das ist gar nicht so einfach. Viele Staatsanwälte stellen sich quer und lassen die Leute einfach nicht frei."
    Kremlkritiker haben wenig Hoffnung auf Amnestie
    Was geschieht, wenn die Fristen in sechs Monaten ablaufen, ist unklar. Romanowa ist Journalistin und hat die Organisation gegründet, nachdem ihr Ehemann, ein wohlhabender Unternehmer, 2009 wegen Geldwäsche und Unterschlagung verurteilt wurde – zu Unrecht, sagt sie. Mittlerweile ist er wieder frei.
    Finanz- und Drogendelikte werden von Behörden am häufigsten missbraucht, um unliebsame Personen und Kremlkritiker hinter Gitter zu bringen. Sie waren von der Amnestie von vornherein ausgenommen. Und das war zu erwarten, sagt Romanowa:
    "Politische Gefangene und ihre steigende Zahl, das kann man wohl leider als Staatspolitik sehen. Trotzdem wollten die Mächtigen mit der Amnestie wenigstens formal demonstrieren, wie human sie sind. Genauso wie sie ja gern demonstrieren, dass es Demokratie und Meinungs- und Pressefreiheit gibt. Aber das Hauptziel ist es, die Gefängnisse zu entlasten. Das Budget schrumpft, es gibt weniger Geld, dafür aber die Sanktionen. Und die Krim muss ja auch finanziert werden. Es gibt immer weniger Geld und Platz für Gefangene."
    15 Jahre Putin haben die Hoffnung auf Wunder nicht zerstört
    Insgesamt sitzen in Russland knapp 700.000 Menschen im Gefängnis, nur in den USA und in China gibt es mehr Häftlinge. Amnestien haben Tradition in Russland, es gab sie schon in Sowjetzeiten zu Jubiläen und Feiertagen. Und in dem von Korruption und Willkür geprägten russischen Gerichts- und Vollzugssystem ist die Hoffnung der Verurteilten auf eine Amnestie besonders groß, bei Schuldigen und Unschuldigen.
    "Jeder hofft auf eine Amnestie. Das hat mit der Tradition zu tun und dem Glauben an Wunder. Selbst 15 Jahre Putin haben die Hoffnung auf Wunder nicht zerstören können. Deshalb gibt es in einigen Gefangenenlagern Unruhen, zum Beispiel in Baschkirien und in Nischni Nowogorod. Die Menschen sind unzufrieden mit dem Resultat der Amnestie. Niemand hatte große Illusionen. Aber man glaubt immer an Wunder, vor allem wenn man im Gefängnis sitzt."
    "Keine echte Amnestie"
    Auch Vladimir Ionov könnte die Amnestie vor dem Gefängnis retten, obwohl der 75-Jährige ein oppositioneller Aktivist ist. Ausnahmsweise ist er an diesem Tag ohne Protestplakat am Pushkin-Platz, einige hundert Meter entfernt vom Kreml. Es ist sein Lieblingsplatz für die erlaubten Ein-Personen-Proteste gegen das System Putin. Aber auf Bitten seiner Anwältin macht er im Moment Protestpause. Nachdem er mehrmals bei nicht erlaubten Demonstrationen verhaftet wurde, drohen ihm unter einem kürzlich verschärften Versammlungsgesetz fünf Jahre Haft oder eine hohe Geldstrafe. Das, was Putin angekündigt habe, sei keine echte Amnestie, findet Vladimir Ionov:
    "Nichts in unserem Land ist echt, so ist das leider. Lügen und Angst bestimmen alles. Als man mir gesagt hat, dass ich vielleicht straffrei davonkomme, habe ich das zur Kenntnis genommen. Aber ich kümmere mich nicht weiter darum. Soll doch kommen, was will. Wenn man einmal diesen Weg des Protests eingeschlagen hat, dann gibt es eh kein Zurück."
    Zwei Mitstreiter von Ionow wurden für die gleichen Vergehen angeklagt wie er und stehen derzeit unter Hausarrest. Ihnen droht weiterhin Haft, weil sie jünger sind als er. Deshalb kann Ionow sich kaum freuen über die vermeintliche Gnade des Staates: Die Unterdrückung und die Willkür der Justiz und des gesamten Systems würden ja fortbestehen. Sobald seine Amnestie von der Staatsanwaltschaft bestätigt wurde, will der 75-Jährige wieder protestieren.