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Russland
Ringen um liberale Hochschulen

Die Europäische Universität in Sankt Petersburg zählt seit dem Beginn ihrer Lehrtätigkeit im Jahr 1996 zu den besten und renommiertesten Hochschulen Russlands. Doch im vergangenen Jahr wurde ihr überraschend die Lehrlizenz entzogen, mehr als ein Jahr später darf nun doch wieder gelehrt werden. Vieles bleibt unklar.

Von Thielko Grieß | 24.09.2018
    Autos stehen vor dem Gebäude der Europäischen Universität von St. Petersburg in St. Petersburg
    Die Europa-Universität in St.Petersburg (AFP PHOTO / Yevgeny Asmolov)
    Ein regnerischer Tag in Sankt Petersburg. Irgendwo in diesem aus der Zarenzeit stammenden, prächtigen Gebäude wenige Meter vom Ufer des Flusses Newa entfernt finden gerade Aufnahmeprüfungen statt: Abgefragt werden Analysefertigkeiten und Sprachkenntnisse. Von Journalisten werden die Bewerber abgeschirmt. Es hat an der Europäischen Universität in den vergangenen Monaten genug Aufruhr gegeben.
    "Wir haben, glaube ich, etwa 171 Bewerber für Plätze an der Uni", zählt Julia Wymjatnina auf, die Dekanin der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. "Das ist recht viel. Je nach Fachrichtung haben wir unterschiedliche Bewerberzahlen. Ich denke, die meisten sind es für Geschichte, Kunstgeschichte und Anthropologie. Und weniger sind es für Soziologie und Wirtschaftswissenschaften. Was auch logisch ist, denn für die gibt es hier in der Stadt viele Angebote zum Studieren. Viele, die das studieren wollten, sind schon dorthin gegangen."
    Ringen der verschiedenen politischen Kräfte
    Denn die Europäische Universität ist diesmal sehr spät dran, um sich um Bewerber zu bemühen. Fast überall in Russland hat das akademische Jahr längst begonnen. Doch die Aufsichtsbehörde Rosobrnadsor hat die Lehrlizenz, mit der manch einer schon gar nicht mehr gerechnet hatte, erst im August wieder erteilt. Es blieb dann noch kaum Zeit bis zum Semesterbeginn, der nun für Anfang Oktober vorgesehen ist. Zurzeit fehlt der Uni nach wie vor ein wichtiges Dokument: die Akkreditierung, um staatlich anerkannte Diplome vergeben zu dürfen. Ob sie erteilt wird, stellt sich wohl erst im Frühjahr heraus.
    Viele Hintergründe dieses behördlichen Versuchs, die Universität lahmzulegen, waren und sind ungeklärt. Wahrscheinlich ist, dass die Hochschule Austragungsort eines Ringens zwischen verschiedenen politischen Kräften war: Im Kreml, in Ministerien, überhaupt in vielen Gesellschaftsbereichen findet seit Jahren ein Streit darüber statt, wie liberal und weltoffen Russlands Institutionen sein dürfen. Zug um Zug gewinnen die Anhänger eines Wegs der Abschottung mehr Macht. Die Europäische Universität war ihnen womöglich ein Dorn im Auge.
    Aber: Die Hochschule hat nach wie vor prominente Fürsprecher wie etwa Alexej Kudrin, der auch im Kuratorium sitzt. Er und die "Liberalen" haben ein klein wenig Boden gutmachen können, nachdem Kudrin als Folge der Präsidentschaftswahl im März Chef des Rechnungshofes geworden ist, ein hoher Posten in der russischen Politik.
    "Ich schließe nicht aus, dass er zusätzliche Gespräche geführt hat. Zu mutmaßen ist, dass sein neuer Posten dazu beigetragen hat. Aber ich spekuliere hier wirklich nur."
    Auch Hochschule in Mosau unter Druck
    Während also in Sankt Petersburg die akademische Freiheit einen kleinen Sieg errungen hat, gibt es einen neuen Fall starken Drucks auf eine Hochschule in Moskau. Im Juni hat dieselbe Aufsichtsbehörde, die direkt der Regierung untersteht, der privaten, vergleichsweise kleinen Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften die Erlaubnis entzogen, staatlich anerkannte Diplome zu vergeben. Man habe Qualitätsmängel festgestellt, heißt es dünn. Die Hochschule ist wegen der Möglichkeit, dort ein russisch-britisches Doppeldiplom abzulegen, sehr begehrt. Viele Studierende haben sich trotzdem entschieden, der Uni treu zu bleiben, darunter auch Anna Kosyrewskaja, die dem Medium "Meduza" sagte:
    "Die Studenten waren schockiert. Das kam zwar alles unerwartet, aber nicht überraschend, denn im Prinzip wundert man sich über nichts mehr. Dann haben Studenten und Alumni eine Petition organisiert mit der Bitte, die Behörde Rosobrnadsor zu schließen und Gesetzgebung und Hochschulbewertungen zu verändern."
    Erfolgsaussichten: eher null. Bis auf weiteres bleiben Studierende und Lehrende im Ungewissen. Auch in diesem Fall wird es nun wahrscheinlich Monate dauern, bis sich im Ringen um eine weitere Insel akademischer Exzellenz in Russland eine Seite durchsetzt. Welche das sein wird, ist nicht abzuschätzen.