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Russland verstehen

Dieser Tage findet in Russland der Präsidentenwechsel statt. Doch Wladimir Putin ist nicht der Mann, der die Macht so ohne Weiteres aus der Hand gibt. Wer die handelnden Personen verstehen will, muss Russland verstehen. Unser Korrespondent in Moskau, Robert Baag, hat zwei neue Bücher zu diesen Fragen gelesen und mit den Autoren gesprochen.

05.05.2008
    "Ein Amerikaner, ein Franzose, ein Russe und ein Deutscher sollen einen Aufsatz über einen Elefanten verfassen. Der Amerikaner wählt den Titel 'The Elephant and how to make him bigger', der Franzose schreibt 'L'éléphant et l'amour', der Russe wählt das Thema 'Der Elefant - eine russische Erfindung' und der Deutsche legt eine zwölfbändige 'Kurze Einführung in die Entwicklungsgeschichte des Elefanten' vor."

    "Russen und Deutsche" lautet die Kapitelüberschrift - und dann folgt als eine Art Motto dieser von Manfred Quiring einst in Moskau gehörter Scherz. Einer von vielen Witzen, die er im Lauf seiner jahrzehntelangen Arbeit als Zeitungskorrespondent in Moskau aufgeschnappt und gesammelt hat. "Russland - Orientierung im Riesenreich" heißt sein eben vorgelegtes Buch - und nicht zuletzt sein Kunstgriff, jedem der neun Hauptkapitel eine inhaltsbezogene Anekdote voranzustellen, macht den Band zu einem amüsanten, dabei niemals flachen Lesevergnügen. Quiring, 1982 kurz vor dem Tod des damaligen kommunistischen Generalsekretärs Breschnew, als junger DDR-Korrespondent in die UdSSR eingereist, erinnert sich:

    "Dass die Russen unheimlich humorvoll unheimlich scharfsinnige Witze zu erzählen verstehen und das hatte mich damals, '82, sehr beeindruckt, weil ich mit völlig anderen Vorstellungen, sicher natürlich auch geprägt durch die eigenen DDR-Medien, hierher gekommen bin und ( sagte: 'Na ja, Russen sind Langweiler, sind dröge.'. Und ich lernte dann hier ein humorvolles, ausgesprochen witziges, scharfsinniges Volk kennen, das gerade in politisch schwierigen Situationen sich dann dadurch auch die notwendige Luft zum Atmen verschaffte."

    Quiring schafft es, die spezifischen Besonderheiten des russischen Alltagslebens, der landeseigenen Mentalität farbig und plastisch herauszuarbeiten. Sein Ton bleibt locker, spart Kritikwürdiges dabei aber keineswegs aus. Ob es - wie gleich im ersten Kapitel - um die "Eigenheiten des Zusammenlebens" geht, um Russlands Frauen und Russlands Männer, um die Besonderheiten der russischen Ehe, um den "Wodka als Droge und Kultgegenstand" oder ein wenig später, wenn Quiring auf eine wichtige Diskrepanz aufmerksam macht: hier die boomende, brummende Hauptstadt Moskau, dort, so die Kapitelüberschrift, "Das andere Russland - Leben in der Provinz". Quiring verwebt anschaulich historische und politische Analyse, die sich mit den Aktivitäten und Motiven der oberen Machtetagen beschäftigt, mit dem realen Alltagsleben der Menschen. Er ermöglicht damit einen eigenen Blick auf den offiziellen Anspruch der Kreml-Mächtigen und die sogenannte normative Kraft des Faktischen, die in Russland schon von je her öfter gegen- als miteinander gewirkt haben und weiter wirken. Ein eigenes Kapitel widmet sich der acht Jahre dauernden Präsidentschaft des Wladimir Putin, geht allerdings auch schon auf dessen Nachfolger im Chefsessel ein, auf Dmitri Medwedew, der übermorgen, am Mittwoch, seinen Amtseid ablegen soll. Manfred Quirings bilanzierender Kurzkommentar:

    "Medwedew Präsident, Putin Premierminister - ein unschlagbares Duo, meinen nicht nur viele Russen sondern auch die meisten Politiker im Ausland, die sich davon Stabilität im Riesenreich versprechen. Wobei niemand daran zweifelt, wer die führende Kraft in dieser Zweisamkeit sein wird: Putin, der weitaus Erfahrenere, der knapp zehn Jahre Ältere, zehn Zentimeter Größere und - nach Meinung von Insidern - der eindeutig Willensstärkere."

    "Ich habe den Eindruck, dass manche unserer Partner es gar nicht abwarten können, bis meine auswärtigen Verpflichtungen enden, um es dann mit jemandem anderen zu tun zu haben. Erlauben Sie mir dazu eine Bemerkung: Ich habe mich schon lange an die Klischees gewöhnt, wonach es schwierig sei, mit einem ehemaligen KGB-Agenten zu reden. Dazu Folgendes: Dmitri Medwedew wird seine liberalen Ansichten nicht beweisen müssen. Aber: Er ist - im positiven Sinn - nicht weniger russischer Nationalist als ich. Unseren Partnern wird es mit ihm, denke ich, nicht einfacher werden","

    sagte Russlands noch amtierender Präsident Wladimir Putin in seiner Residenz bei Moskau in Gegenwart der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Knapp acht Wochen ist das her.

    ""Das war nicht nur taktlos, sondern auch eine Kompetenzüberschreitung, wo doch die Außenpolitik eigentlich der Präsident bestimmt. Wie lange wird diese Doppelspitze von Bestand sein, in einem Land, dessen Bürokratie und Bürger gewohnt sind, nur einem Herrscher zu huldigen? Russland vertrage 'keine zwei Sonnen', meinte Diktator Stalin. Seine Sentenz galt bislang als Axiom, und nun soll sich das auf einmal ändern, nur weil die Chemie zwischen den beiden Himmelskörpern stimmt"

    merkt Klaus-Helge Donath in seinem ebenfalls gerade vorgelegten, vorzüglichen Buch "Das Kreml-Syndikat" an. Auch er ist seit den 80er Jahren als scharfsichtiger journalistischer Wegbegleiter in Moskau tätig, als Korrespondent der Berliner "taz", der "Tageszeitung". Hier schreibt einer, der an diesem Land buchstäblich leidet, bestechend im Stil, mit einem aus Beobachtung und Erfahrung gespeisten sowie akademisch profunden Wissen versehen. Donath leidet aus vielfach geprüfter Zuneigung, leidet mit den Menschen Russlands mit - doch nie larmoyant, auch nicht besserwisserisch-arrogant, wie ihm manche sogenannte westliche Russland-Verstehe" sicherlich bald vorwerfen werden. Einem Chirurgen ähnlich benutzt er das Instrumentarium des Politologen, des Philosophen und politischen Psychologen. Er seziert im Wortsinn längst verblichen geglaubte Denkmodelle, die aber als Wiedergänger zurück ins Leben Russlands drängen, heute schon den Ton anzugeben scheinen im offiziellen Moskau. So macht Donath auf den rechtskonservativen, antikommunistischen Philosophen Ivan Iljin aufmerksam, der einst vor Lenins Bolschewiki, später dann auch aus dem Berlin der Nazis in die Schweiz emigrierte und dort 1954 im Exil starb. Donath sarkastisch:

    "Delikat indes: Der ehemalige Staatsfeind avancierte zum Künder der Zukunft in einem Land, dessen herrschende Geheimdienstelite ungeniert wieder an die Traditionslinie zur bolschewistischen Geheimpolizei 'Tscheka' anknüpft, ebenjene, die den Philosophen zwangsexilierte. Ilin galt als besonders flammender Antibolschewist und gehörte zu den Vertretern der russischen Vorkriegsrechten, die im Berlin der Weimarer Zeit umstandslos Anknüpfungspunkte mit der deutschen Nachkriegsrechten fand. Im Antibolschewismus, Antisemitismus und in der Antibürgerlichkeit ergab sich ein gemeinsamer Nenner. Ob Präsident Putin, Würdenträger der orthodoxen Kirche, Publizisten oder Staatskünstler - sie alle preisen Iljin als den wegweisenden Vordenker einer neuen Staatsideologie."

    Donath weiter:

    "Für die Zeit nach dem Bolschewismus, von dessen Zusammenbruch er fest überzeugt war, verschrieb er zunächst eine 'Erziehungsdiktatur'. 'Möglichkeiten politischer Wahl' hielt er für 'tödlich', bevor das Volk nicht zum selbstständigen Denken in der Lage sei. Bis dahin kann nur eine nationale, patriotische, keineswegs totalitäre, jedoch autoritäre - erzieherische und auferweckende - Diktatur das Volk lenken."

    "Stabiler Rausch", "Autoerotische Großmacht-Phantasien", "Sieg der Mystik über die Vernunft", "Recht, Gesetz und Wertekollaps" - derlei Kapitelüberschriften allein wecken die Lust, mehr zu erfahren. Und soviel vorweg: Diese Neugier wird nicht enttäuscht werden. Allen Schönfärbern der russischen Realitäten sollte Donaths "Kreml-Syndikat" als Pflichtlektüre verordnet werden. Ein intellektuelles Vergnügen wartet auch auf sie.

    Russland so gegen den Strich gebürstet - das hat nichts mit Russophobie zutun. Der russische Staat, die russische Gesellschaft, Donath führt den Beweis, weisen knapp 20 Jahre nach dem Fall des Spät-Stalinismus immer noch bedenkliche Krankheitssymptome auf. Sie zu erkennen, sie zu benennen, ist unabdingbar, soll sich dieser Zustand einmal ändern. Aber, so Donath:

    "Putins Erbe ist furchterregend. Als er und Medwedew sich am Wahlabend auf einer Jubelfeier am Rande des Roten Platzes für das Wählervertrauen bedanken wollten, ergab das eine gespenstische Szene. Die Claqueure skandierten "Putin, Putin" – 'Medwedew' brachten selbst die Jubelperser nicht über die Lippen. Das ist ein schlechtes Omen für jemanden, der etwas verändern will."


    Klaus Helge Donath: Das Kreml-Syndikat
    Rotbuch-Verlag, Berlin
    224 Seiten, 19,90 Euro

    Manfred Quiring: Russland - Orientierung im Riesenreich
    Links-Verlag, Berlin
    205 Seiten, 16,90 Euro