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Russlandbilder, Deutschlandbilder

Das noch von Lew Kopelev initiierte Forschungsprojekt "West-östliche Spiegelungen" will Russlandbilder der Deutschen und Deutschlandbilder der Russen rekonstruieren, die in zwei Heißen und in einem Kalten Krieg verfestigten Feindbilder verunsichern und auf dieser Grundlage zur Verständigung beitragen. Die ersten Veröffentlichungen des Projekts widmeten sich vornehmlich dem 18. und dem 19. Jahrhundert, jetzt ist man im finsteren 20. Jahrhundert angekommen. In zwei von Karl Eimermacher und Astrid Volpert herausgegebenen voluminösen Bänden zeichnen deutsche und russische Historiker Selbst- und Fremdbilder ihrer Völker in den beiden Weltkriegen nach und beleuchten die deutsch-russischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit. Unser Rezensent Leonid Luks ist Professor für mittel- und osteuropäische Geschichte an der katholischen Universität Eichstätt.

Von Leonid Luks | 10.04.2006
    16 der insgesamt 40 Beiträge, die Band 1 der "Neuen Folge" "West - Östlicher Spiegelungen" versammelt, sind dem Ersten Weltkrieg gewidmet. Sie schildern den Ausbruch des Russlandhasses in Deutschland und des Deutschenhasses in Russland. An dieser Explosion von Fremdenfeindlichkeit waren erstaunlicherweise zahlreiche Vertreter der geistigen Eliten beider Länder beteiligt, die sich bis dahin mit Nachdruck für einen Dialog zwischen den beiden Kulturen eingesetzt hatten und von den kulturellen Anregungen des jeweils anderen außerordentlich profitierten. "Philosophische Kriegspublizistik" nennen Nikolaj Plotnikov und Modest Kolerov die russische Variante des von Julien Benda als gesamteuropäisches Phänomen beschriebenen "Verrats der Intellektuellen". Ewjenij Trubezkoj, ein führender russischer Denker der Vorkriegszeit zum Beispiel, trug so zur nationalistischen Mobilisierung bei:

    "[Die] Erhebung der Nation zu einem Götzen, ihre Anhimmelung [...] - das ist der wichtigste Fehler des modernen Deutschland, ein fataler Fehler, denn jeder Götze muss früher oder später zerschlagen werden. "

    Trubezkoj warnt seine Landsleute davor, den Weg Deutschlands zu beschreiten, spricht aber im gleichen Atemzug vom "welthistorischen Auftrag Russlands" - unter anderem zur Eroberung von Konstantinopel. In offiziösen Schriften, die Larissa Korowina in ihrem Aufsatz "Munition ohne Patronen" analysiert, wird man deutlicher. Gewalt sei ein "Grundbedürfnis der deutschen Seele", heißt es da, die Deutschen seien "Wilde, Gewalttäter und Halsabschneider." Als nach Kriegsausbruch russische Erfolge an der deutschen Front ausblieben, verbanden sich solche propagandistische Versatzstücke mit Unterlegenheitsgefühlen zu einem allgemeinen Misstrauen gegen alles Deutsche, das in antideutschen Ausschreitungen explodierte. Deren Höhepunkt, die Moskauer Pogrome vom Mai 1915, stellt Ludmila Gatagova in ihrem Beitrag detailliert dar. Hunderte von Handelsunternehmen, Wohnungen und Häusern wurden verwüstet, die Schäden beliefen sich auf über 50 Millionen Rubel. Die Moskauer Behörden, so die Autorin, hätten mit Sicherheit von den bevorstehenden Pogromen gewusst, seien aber zunächst untätig geblieben und viel zu spät eingeschritten.

    Der russischen Germanophobie entsprach auf der deutschen Seite eine nicht weniger intensive Russophobie, die vor allem von Peter Jahn einer gründlichen Analyse unterzogen wird. Er untersucht die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf die vorübergehende Besetzung ostpreußischer Territorien durch russische Truppen im Jahre 1914. Diese kurze Episode, die in der Geschichte des Ersten Weltkrieges nur eine periphere Bedeutung hatte, wurde in deutschen Propagandaschriften zur apokalyptischen Begegnung zwischen Gut und Böse ausgemalt:

    " Russlands halbasiatische Horden überfluteten blühende deutsche Gefilde. Sie haben schlimmer als wilde Tiere gehaust. [...] Greise, Frauen und Kinder wurden in asiatischer Rohheit zu Tode gemartert. "

    Tatsächlich, so Peter Jahn, seien 1914 die völkerrechtlichen Bestimmungen zum Schutz der Zivilbevölkerung in Ostpreußen zwar etliche Male schwer verletzt worden,

    " aber selbst die von den Wertvorstellungen des Kaiserreichs geprägte Darstellung des deutschen Reichsarchivs über die Befreiung Ostpreußens, in der die Übergriffe umfassend dargestellt werden, gestand der militärischen Führung der russischen Armee Sorge um die Disziplin und strenge Ahndung von Übergriffen zu. "

    Das Kriegsrecht blieb im Ersten Weltkrieg weitgehend wirksam, die Dämonisierung des jeweiligen Gegners führte weder in Russland noch in Deutschland zu völkermörderischer Konsequenz. Dennoch sollte die hemmungslose Propaganda, darauf verweist Jahn in seinem Fazit, letztendlich verheerende Folgen haben.

    " Nicht zuletzt mit den ostpreußischen Schreckbildern haben die Planer des Überfalls von 1941 dann auch ganz konkret gerechtfertigt, dass für russische Soldaten und Zivilisten der Schutz des Völkerrechts in diesem Feldzug nicht gelten dürfe. "

    Der Deutsch-sowjetische Krieg, dem die restlichen Beiträge des Bandes gewidmet sind, unterschied sich grundlegend vom Ersten Weltkrieg, ja, von allen früheren Kriegen der neueren europäischen Geschichte. Ernst Nolte hat das "Unternehmen Barbarossa" zutreffend charakterisiert als "den ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt." Dieser Angriffskrieg, der den alten Traum von der Eroberung des Lebensraums im Osten verwirklichen sollte, wurde von den Propagandisten des Dritten Reiches zum Verteidigungskrieg stilisiert. Jochen Janssen hat die Schulungsliteratur von Reichswehr und Wehrmacht in den Jahren 1933-1945 untersucht und zitiert aus den vom Oberkommando der Wehrmacht herausgegebenen "Mitteilungen für die Truppe." Im Juli 1941 hieß es da:

    " Die bolschewistischen Massen würden das Ende alles sinnvollen Lebens gebracht haben, wäre ihr Einbruch nicht in letzter Sekunde vereitelt worden. [...] Dass diese Mordpest jetzt ausgerottet wird, ehe es zu spät war, das haben wir allein dem Führer zu verdanken, der die Gefahr im letzten Moment erkannt hat. "

    Janssens Beitrag ist durchaus informativ, erschließt aber kein wissenschaftliches Neuland. Das Russlandbild der Militärpropaganda im Dritten Reich wurde nicht zuletzt in zahlreichen Veröffentlichungen des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes ausführlich untersucht. Wesentlich innovativer ist ein Aufsatz über die deutsch-russische Plakatpropaganda, in dem Klaus Waschik unterschiedliche Rahmenbedingungen des nationalsozialistischen und des sowjetischen Propagandafeldzugs analysiert. Da die Sowjetunion zumindest in den ersten Kriegsjahren auf eigenem Territorium kämpfte, zielte ihre Propaganda auf Verteidigung und auf den Schutz des Vaterlandes. Auf deutscher Seite hatte die Kriegspropaganda einen ganz anderen Charakter.

    " Deutschland plante und führte einen Angriffs- und Vernichtungskrieg, der weit in das Land des Gegners hineingetragen wurde. Die Propaganda richtete sich daher bei ihrem Einsatz an der Front auf den Abbau humaner Emotionen. [...] Die Inlandspropaganda verfolgte vor allem das Ziel, den Charakter des Kriegs als ´gerechte Vernichtung´ des ohnehin ´Untermenschlichen´ einsichtig zu machen. Eine dritte Linie wurde mit der Propaganda in den besetzten Gebieten verfolgt. Hier ging es um die Schürung antisowjetischer und antisemitischer Ressentiments. "

    Einige Beiträge befassen sich mit den Versuchen der stalinistischen Propagandisten, an die Klasseninstinkte der Proletarier in der Wehrmacht zu appellieren und sie zum Sturz des eigenen Regimes zu bewegen. Als diese Hoffnung sich als illusionär erwies, konzentrierte sich die sowjetische Propaganda beinahe ausschließlich auf die Schürung des Hasses gegen die deutschen Invasoren. Zum wirksamsten sowjetischen Agitator wurde nun der Schriftsteller Ilja Ehrenburg. Seinen antideutschen Eifer schob Propagandaminister Goebbels auf dessen jüdische Herkunft. In Wirklichkeit, darauf weist Tatjana Gorjaeva in ihrem Beitrag hin, unterschied sich der Standpunkt Ehrenburgs in keiner Weise von den Positionen der meisten sowjetischen Schriftsteller und Publizisten nichtjüdischer Herkunft. So schrieb etwa Alexei Tolstoj im Juli 1941:

    " Hitler und seine Armee zu besiegen und zu vernichten, die Tod und Sklaverei [...] bringen. Dafür brauchen wir Hass [...], heiligen Hass, der verbindet und erhöht. "

    Dass diese Propaganda eine Eigendynamik entwickelte und Racheorgien gegen die deutsche Zivilbevölkerung in der Stunde des Sieges der Roten Armee mit verursachte, wird in diesem Band ebenso thematisiert wie die Leiden der im August 1941 deportierten Russlanddeutschen, die der sowjetischen und deutschen Kriegsgefangenen, der nach Deutschland verschleppten "Ostarbeiter" und der deutschen Zwangsarbeiter in der UdSSR. Eine Tragödie besonderer Art kommt allerdings im Buch entschieden zu kurz: der nationalsozialistische Judenmord in den besetzten Ostgebieten. Erstaunlich ist auch, dass der Band einen Beitrag enthält, in dem der Moskauer Historiker Boris Sokolow die von der überwiegenden Mehrheit der westlichen Militärhistoriker längst als unhaltbar zurückgewiesene These des russischen Amateurhistorikers Viktor Suworow aufwärmt, der zur Folge Stalin im Sommer 1941 einen Angriff auf Deutschland geplant habe und die deutsche Invasion vom 22. Juni 1941 ihm nur zuvorgekommen sei.

    Der zweite Band des Projekts befasst sich mit den deutsch-russischen Beziehungen und Fremdwahrnehmungen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, also in der Periode, in der die beiden Verlierer des Ersten Weltkrieges zunächst aufeinander angewiesen waren, um sich der Übermacht der Siegermächte zu erwehren. Trotz der in Deutschland verbreiteten Ängste vor der bolschewistischen Gefahr wurden ausgerechnet konservative Kreise der Weimarer Republik zur treibenden Kraft bei der Annäherung an das bolschewistische Russland. Dieser deutsch-sowjetischen Kooperation sind mehrere Beiträge gewidmet. So befasst sich Horst-Günther Linke mit der ostpolitischen Konzeption Brockdorff-Rantzaus, der nach dem Vertrag von Rapallo als erster Diplomat die deutschen Interessen in Moskau vertrat. Der Kampf gegen die Versailler Ordnung hatte für diesen Vertreter des konservativen Establishments der Weimarer Republik absolute Priorität, deshalb plädierte er für eine enge Anlehnung an den bolschewistischen "Klassengegner". Er wollte, schrieb er,

    " von Moskau aus die Folgen des schmählichen Diktats von Versailler erfolgreich bekämpfen und vielleicht das ganze Schandwerk über den Haufen werfen. "

    Zugleich war sich Brockdorff-Rantzau aber darüber im Klaren, dass es sich bei der Sowjetunion um einen seltsamen Verbündeten handelte. Einerseits bemühten sich die sowjetischen Diplomaten um eine intensive Zusammenarbeit mit der Weimarer Republik, andererseits versuchte die von Moskau völlig abhängige Komintern, die "kapitalistische" Regierung Deutschlands zu stürzen. Dass diese doppelgleisige Politik auch der sowjetischen Diplomatie außerordentliche Schwierigkeiten bereitete, stellt Ludmila Thomas dar, wenn sie die Einstellung des sowjetischen Außenkommissars Tschitscherin zu Deutschland untersucht. Der Apparat der Komintern, so Tschitscherin in einem seiner Briefe, sei der "größte Feind" der sowjetischen Diplomatie.

    Viele Beiträge befassen sich mit der Verschärfung der deutsch-sowjetischen Beziehungen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung und mit der Tragödie der deutschen Emigranten in der UdSSR, die nun den sowjetischen Terrororganen ausgeliefert waren. Tragisch war aber auch die Lage vieler russischer Emigranten, die in Deutschland Zuflucht vor der bolschewistischen Diktatur gesucht hatten. 1933 wurden sie wieder mit einem totalitären Regime konfrontiert, das viele von ihnen zu einer erneuten Flucht zwang bzw. Repressalien unterwarf.

    Viel Aufmerksamkeit widmet der Band dem deutsch-russischen Kulturdialog, der vor allem in den 20er Jahren eine beispiellose Intensität erreichte. Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Rezeption von Fjodor Dostojewski in Deutschland und von Oswald Spengler in Russland, die Christoph Garstka und Galina Thieme in ihren jeweiligen Aufsätzen analysieren. Diese gegenseitige kulturelle Faszination hatte allerdings die deutsch-russische Entfremdung trotz der kurzlebigen Allianz der beiden totalitären Diktaturen in den Jahren 1939-1941 nicht verhindert. Mühelos überwand Hitler den Widerstand mancher Verfechter der pro-russischen Orientierung im konservativen Establishment des Dritten Reiches, auch die des deutschen Botschafters in Moskau von der Schulenburg, der Hitlers Aggression gegen die Sowjetunion als "ungerechtfertigt" verurteilte. Und so wurde am 22. Juni 1941 ein Vernichtungskrieg entfesselt, der in der neueren europäischen Geschichte ohne Beispiel war.

    Der zweite Band ist bei weitem nicht so klar strukturiert wie der erste, aber insgesamt leisten die beiden Bände des "Wuppertal-Bochumer Projekts über Russen und Deutsche im 20. Jahrhundert" einen gewichtigen Beitrag zum Verständnis der schillerndsten und schmerzhaftesten Phase der deutsch-russischen Geschichte.

    Karl Eimermacher/Astrid Volpert (Hrsg.): Verführungen der Gewalt
    West-östliche Spiegelungen, Band 1
    Russen und Deutsche im Ersten und Zweiten Weltkrieg
    Wilhelm Fink Verlag, München 2005, 1394 Seiten, 180 €

    Karl Eimermacher/Astrid Volpert (Hrsg.): Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen
    West-östliche Spiegelungen, Band 2
    Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit
    Wilhelm Fink Verlag, München 2006, 1134 Seiten, 160 €