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Russlands neue Arbeiterbewegung

Für gerechte Löhne und bessere Sozialleistungen kämpfen die freien Gewerkschaften in Russland. Traditionell gibt es zwar in jedem Betrieb eine organisierte Arbeitervertretung, doch gewinnen die freien Gewerkschaften an Zulauf, weil sie weniger eng mit Staat und Unternehmensleitungen kooperieren. Andrea Rehmsmeier berichtet.

19.01.2007
    "Das hier ist meine letzte Gehaltsabrechnung: 3182 Rubel, das sind 90 Euro. Es ist der pure Tariflohn, ohne Prämien. So viel haben sie mir gezahlt, seit ich angefangen habe, die Wahrheit zu sagen, das ist ein Viertel meines alten Gehalts. Ich habe versucht, davon zu leben, bis mein Arzt mir das erste Stadium von Auszehrung diagnostiziert hat. Ich habe von zwei Äpfeln am Tag gelebt, weil das Geld schon mit der ersten Mietzahlung weg war. Mein Arbeitgeber hat wohl gehofft, dass ich von alleine kündige. Ich habe aber aus Prinzip weiter gearbeitet. Schließlich haben sie mich doch entlassen, angeblich, weil durch meine Schuld ein Autoreifen geplatzt ist."

    Seine letzte Gehaltsabrechung, Aleksandr Zacharkin hat sie sorgfältig in einer Mappe abgeheftet. Als ein Papier von vielen, das das Ende seiner Berufslaufbahn als Kranführer bei der Öl- und Gasfirma Surgutneftegaz dokumentiert. Im vergangenen Oktober hat sein zweites Leben begonnen: als Aktivist einer neuen Arbeiterbewegung. Zacharkin ist ein schmächtiger Mann Anfang 40, und die Empörung über das, was ihm passiert ist, steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er ist extra aus Surgut nach Moskau angereist, aus einer der rohstoffreichsten Regionen Westsibiriens. Erst am Morgen ist er, nach 16 Stunden Zugfahrt, in Moskau angekommen, als Abgesandter von 60 weiteren gewerkschaftlich organisierten Kollegen, die ebenfalls entlassen wurden. Jetzt sitzt er in dem kleinen Büro von Profsvoboda, der Dachvereinigung der Freien Gewerkschaften Russland. Beim Vorsitzenden Sergej Chramov holen sie sich Rechtsberatung und Tipps für die Organisation von Protestaktionen.

    "In unserem Land werden alle möglichen Wirtschaftsreformen durchgeführt, nur nicht für den Sektor Arbeit. Das Problem ist, dass sich der Lohn eines Arbeiters bei uns nicht durch Arbeitszeit und Qualifikation ergibt, daran orientiert sich nur der tariflich vereinbarte Anteil, und der macht oft nur 20 oder 30 Prozent der Gesamtsumme aus. Der Löwenanteil besteht aus Prämienzahlungen, und die werden ohne jede rechtliche Grundlage ausgezahlt. Irgendein mittlerer Manager trifft eine einsame Entscheidung über den Lohn eines Arbeiters. Er kürzt einfach seine Prämien, sobald dieser sich herausnimmt, für seine Rechte einzutreten. Deshalb kämpfen wir dafür, dass die Lohnhöhe weniger von den Prämien abhängt."

    Die Profsvoboda hat sich in den letzten Tagen der Sowjetunion gegründet. Inzwischen vertritt sie 1500 freie Gewerkschaften aus verschiedenen Branchen und hat rund 30.000 Mitglieder. Das Telefon im Büro steht nicht still, denn es gibt viel Erklärungsbedarf. Wozu braucht man freie Gewerkschaften, fragen viele, wo es doch seit eh und je in jedem größeren Werk offizielle Gewerkschaften gibt? Immerhin haben die einen guten Draht zur Betriebsleitung und sind obendrein in den städtischen und staatlichen Institutionen vertreten. Weil diese viel zu eng mit dem Arbeitgeber zusammenarbeiten, um Arbeitnehmerrechte vertreten zu können, lautet Chramovs Antwort. Gewerkschafter Zacharkin kann das nur bestätigen. Surgutneftegaz hat in den vergangenen Jahren den steigenden Rohstoffpreisen zum Trotz seine Sozialleistungen für die Belegschaft immer weiter abgebaut, und das mit dem still schweigendem Einverständnis der betrieblichen Gewerkschaft.

    "Bei uns haben sie den Arbeitstag auf zehn Stunden verlängert, und das bei völliger Degradierung der Sozialleistungen. Das ist in ganz Russland so: Viele Menschen arbeiten ohne Krankenversicherung und ohne Rentenanspruch, ohne Mutterschutz für die Frauen. Sie sind froh über jedes Gehalt und nehmen, was sie kriegen können ohne jede soziale Garantie."

    Gerechte Löhne und bessere Sozialleistungen, das will Zacharkin jetzt öffentlich einfordern. Zusammen mit anderen Gewerkschaftern bereitet er Spruchbänder und Flugblätter für Demonstrationen vor, zuhause in Surgut und in Moskau. Die letzte Protestaktion in der Hauptstadt war überraschend erfolgreich verlaufen: Er durfte sein Anliegen im Wirtschaftsministerium vortragen, und das wandte sich mit der Aufforderung an die Betriebsleitung, seine Sozialleistungen zu verbessern. Es war nur ein Empfehlungsschreiben, nichts verbindliches. Und doch erinnerte es Zacharkin an die Anfänge der Arbeiterbewegung in Westeuropa. Seitdem ist er sicher, dass er weiter kämpfen wird.