Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Ruth Klüger über Österreich
"Entsetzlich, dass es so weit gekommen ist"

Die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger betrachtet den Aufstieg der Rechtspopulisten in ihrem Geburtsland Österreich mit Sorge. Auch Jahrzehnte nach ihrer Emigration sei ihr die Entwicklung dort noch wichtig, sagte sie mit Blick auf die morgige Präsidentenwahl im DLF. Für gefährlicher hält Klüger jedoch die Lage in ihrer Wahlheimat: den USA.

Ruth Klüger im Gespräch mit Jasper Barenberg | 03.12.2016
    Die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger spricht am 27.01.2016 in Berlin im Bundestag bei der Gedenkveranstaltung.
    Ruth Klüger, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin (dpa / picture alliance / Kay Nietfeld)
    "Österreich ist minimal im Vergleich zu Amerika an Wichtigkeit", betonte die Schriftstellerin und Publizistin. "Und außerdem haben die einen Präsidenten, der nichts zu sagen hat - im Vergleich zum amerikanischen Präsidenten, der eine Nuklearwaffe abdrücken kann." Auch knapp einen Monat nach dem Sieg von Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl wache sie noch immer morgens auf und denke, sie habe schlecht geträumt. Sie wisse nicht, was in den Vereinigten Staaten noch geschehen werde. Hoffnung auf baldige Besserung hat Klüger jedenfalls nicht: "Die nächsten Jahre - da kann man nur den Kopf schütteln."
    Die Tochter eines jüdischen Arztes war während des Zweiten Weltkriegs in verschiedenen Konzentrationslagern interniert. 1945, noch vor Kriegsende, gelang ihr zusammen mit ihrer Mutter die Flucht. 1947 emigrierte Klüger in die USA.
    Bayerischer Ehren-Buchpreis für Ruth Klügers Lebenswerk
    Im München wurde die Publizistin am Donnerstag mit dem Bayerischen Ehren-Buchpreis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Dazu zählt unter anderem das 1992 veröffentlichte Buch "weiter leben", in dem die heute 85-Jährige über ihre Jugend während der Nazi-Herrschaft berichtet. Sie habe damals in Deutschland Menschen kennengelernt, die viel gewusst und viel Verständnis gehabt hätten, sagte sie im DLF. Dennoch habe sie den Eindruck gehabt, dass sie als Holocaust-Überlebende ihnen noch etwas zu sagen gehabt habe - "über Nuancen, Übergänge und Gefühle dieser Zeit".

    Das Interview in voller Länge:
    Sarah Zerback: Als Ruth Klüger aufschrieb, wie sie den Holocaust überlebte, war sie über 50 und schon lange eine angesehene Literaturwissenschaftlerin in den USA. Ihr Buch "Weiterleben" erzählt, wie sie als jüdisches Mädchen in ihrer Geburtsstadt Wien Ausgrenzung erlebte. Wie sie 1942 zusammen mit ihrer Mutter erst ins KZ Theresienstadt deportiert wurde und später nach Auschwitz-Birkenau. Auf einem der vielen Todesmärsche am Ende des Krieges gelang beiden die Flucht. Sie wanderte in die Vereinigten Staaten aus. In München wurde Ruth Klüger jetzt für ihr Lebenswerk mit dem Bayerischen Ehren-Buchpreis ausgezeichnet. Dort hat mein Kollege Jasper Barenberg sie getroffen und mit ihr über die Gefahren des Rechtspopulismus in den USA und Europa gesprochen und darüber, wie wichtig es für die 85-Jährige bis heute ist, über die Vergangenheit zu sprechen.
    Ruth Klüger: Ja, sicher ist es mir wichtig. Das ist ja ein Teil meines Lebens, das ist ein wesentlicher Teil meines Lebens, und wenn man Anteil nimmt an deinem Leben, dann freust du dich darüber, und das stimmt dich auch nachdenklich: Was ist es nun daran, das einen Eindruck auf die Menschen macht?
    Jasper Barenberg: Was glauben Sie, was ist es?
    Klüger: Zum Teil ist es, hoffe ich natürlich, dass die Leser was daraus lernen, sich informieren wollen, aber auch, und das habe ich öfters gehört, dass es ihnen einen Zugang gibt, dieses Buch, einen Zugang gibt zu Vorfällen, die ihnen vorher völlig fremd waren. Frauen haben mir gesagt, sie haben ein ähnlich schwieriges Verhältnis zu ihren Müttern wie das, was ich zu meiner Mutter hatte. Und durch diese Sache, die ihnen bekannt war, hatten sie ein Verständnis, oder es öffnete sich zumindest ein Verständnis für das, was ihnen unbekannt und unheimlich war.
    Barenberg: Weil im Grunde genommen, ist das ja jedem klar, dass so etwas wie verstehen im Sinne von 'nachvollziehen können' eigentlich bei dem, was Sie erlebt haben in frühester Kindheit, unmöglich sein muss.
    Klüger: Irgendwie ist das allgemein Familiäre, ich will nicht sagen Menschliche, das ist zu breit – das Familiäre, Familienverhältnisse sind etwas, was die Menschen kennen. Und es öffnet sich da ein Weg, ich weiß nicht, wie breit oder wie schmal, das hängt vom Leser oder von der Leserin ab, auch diese Ungeheuerlichkeiten des Zweiten Weltkriegs zu verstehen.
    "Man muss das überleben, um Zeugnis abzulegen"
    Barenberg: Betrachten Sie das als eine Art Aufgabe, einen Auftrag, davon zu erzählen, darüber zu sprechen?
    Klüger: Nein, ich habe es nicht als Auftrag betrachtet, sonst hätte ich früher damit angefangen. Obwohl ich immer das Gefühl hatte, wie so viele Überlebende, dass man Zeugnis ablegen soll. Das war immer die Formel, die wir alle im Sinn hatten. Man muss das überleben, um Zeugnis abzulegen. Aber dann haben so viele – da kamen ja viele Bücher, vor allem von Männern, wenige von Frauen, und ich hab gedacht, ich war noch ein Kind, ich hab gar nicht so viel gesehen und gehört wie die Erwachsenen, und das ist eigentlich vorbei. Und dann war ich in Deutschland, und da habe ich eben Menschen kennengelernt in Göttingen, die viel Verständnis hatten für vieles, für alles Mögliche und die viel wussten. Und ich dachte, denen habe ich doch eigentlich noch etwas zu sagen, etwas über die Nuancen und die Übergänge und die Gefühle dieser Zeit. Und für die habe ich das Buch geschrieben.
    Barenberg: Sie haben auch Bezug zu den Verbrechen damals genommen und zu der Verdrängung in der Nachkriegszeit, als Sie im vergangenen Jahr im Bundestag am 27. Januar eine Rede gehalten haben am Tag des Gedenkens an die Opfer der NS-Herrschaft. Und Sie haben damals Ihrer Verwunderung Ausdruck gegeben und ihrer Bewunderung dafür, dass die Bundesregierung, dass speziell die Bundeskanzlerin viele Flüchtlinge aufgenommen hat und ein solches Signal in die Welt gegeben hat. Sie haben ihren Satz "Wir schaffen das" sogar als heroisch bezeichnet. Warum?
    Klüger: Es ist ja so: Zwei Generationen sind vergangen seither, und plötzlich oder nicht so plötzlich, vielleicht allmählich, ist Deutschland vielleicht das fortschrittlichste Land der Welt geworden. Sie können sich kaum vorstellen, wie sehr das jemanden wie mich sowohl beeindruckt wie verwundert. Dadurch habe ich das zunächst einfach mit Verwunderung wahrgenommen, und nachher mit immer mehr Beifall und Bewunderung, besonders, wo sich der Rest der Welt ja so sehr sträubt, Verfolgte und Flüchtlinge anzunehmen.
    Barenberg: Nun liegt es auch schon wieder eine Weile zurück, dass Sie diese Rede gehalten haben, und auch in Deutschland haben sich die Dinge weiterentwickelt. Die Debatte läuft im Moment in eine andere Richtung, und es wird viel eher darüber diskutiert, wie man Zuwanderung begrenzen kann. Es wird darauf hingewiesen, dass es Grenzen der Belastbarkeit gibt. Sind Sie irritiert, wenn Sie diese Neuigkeiten jetzt aus Deutschland –
    Klüger: Ich bin traurig darüber.Ich kann nicht sagen, ich bin irritiert darüber, denn Deutschland ist ja nur eines von den vielen Ländern, die mit einer ziemlich kampfbereiten Rechten zu kämpfen hat. Als Amerikanerin, nach dieser letzten Wahl, habe ich nicht das Recht, mich darüber besonders aufzuregen. Ich gehöre zu den Amerikanerinnen, die morgens aufwachen und denken, jetzt habe ich einen sehr schlechten Traum gehabt. Und dann merkt man, der Traum ist noch immer da und hängt wie eine Wolke über dir. Ich weiß ja nicht, was in unserem Land jetzt noch vorgehen wird.
    "Österreich ist minimal im Vergleich zu Amerika an Wichtigkeit"
    Barenberg: Manche haben ja die Wahrnehmung, dass die Vereinigten Staaten schon in den letzten Jahren immer mehr zu einer gespaltenen Gesellschaft geworden sind. Was jetzt das Verhältnis zu den Minderheiten, zu den Einwanderern und so weiter angeht, welche Befürchtungen haben Sie da?
    Klüger: Na ja, irgendwie – das werden wir überleben, weil so viele von uns eben auf der anderen Seite stehen. Das ist etwas, was hochgekocht ist, nachdem wir acht Jahre lang einen schwarzen Präsidenten hatten, und noch dazu einen, der wohl der intellektuellste Präsident seit Thomas Jefferson ist. Also eigentlich ein Modell in vielerlei Beziehung. Und gerade in einer schwer erklärbaren, aber trotzdem immer wieder vorkommenden Umwendung ist das Gefühl gegen die Schwarzen in diesen Jahren zunehmend geworden.
    Barenberg: Ich frage auch deshalb nach, weil es ja gewisse Parallelen zu vielen Entwicklungen auch in Europa gibt, zum Beispiel die Präsidentschaftswahl in Österreich, wo sich viele Sorgen machen, dass das so etwas wie eine Zäsur, wie ein Dammbruch wäre, wenn ein Rechtspopulist wie Norbert Hofer der nächste Bundespräsident würde.
    Klüger: Morgen zu wählen, ja. In Österreich ist es ja fast ein Witz, dass diese Wahl noch einmal stattfinden musste, weil die Briefumschläge nicht geklebt haben. Aber Österreich ist minimal im Vergleich zu Amerika an Wichtigkeit, und außerdem haben die einen Präsidenten, der nichts zu sagen hat oder der nur zeremoniell ist, im Vergleich zum amerikanischen Präsidenten, der eine Nuklearwaffe losdrücken kann.
    Barenberg: Die Sorge in Österreich ist nur, wenn einmal der Bundespräsident von der FPÖ ist, dann wird über kurz oder lang auch ein FPÖ-Politiker Bundeskanzler werden. Und dann sähe die Situation ja noch anders aus.
    Klüger: Ich freue mich nicht darüber, dass es so weit gekommen ist. Natürlich nicht, entsetzlich. Aber ich bin auch teilweise Österreicherin, Sie hören es ja an der Stimme und am Akzent. Und es geht mich schon an, es ist mir wichtig. Es ist mir wichtig für meine Freunde, es ist mir wichtig auch für, sagen wir mal, mein Selbstgefühl – ein Teil davon ist wienerisch.
    Barenberg: Würden Sie sagen, dass es bei all diesen Entwicklungen, ob in den USA, in Österreich oder sagen wir, in Frankreich, darum geht, die offene Gesellschaft zu verteidigen gegen die, die gerade diese Offenheit ablehnen und einen anderen Weg gehen wollen.
    Klüger: Ja, wir haben ja gar nichts anderes. Aber das führt uns zurück in ein rationales Zeitalter, nämlich die Aufklärung, und die Aufklärung hat jetzt sehr gelitten in diesen letzten Jahren, und es kommen alle möglichen Aberglauben – kann man Aberglauben als Plural verwenden? –, jede Art von Aberglauben kommt wieder hoch. Und wenn man sie angreift, so kommen Gegenangriffe, dass man es nicht ernst nimmt mit der Religion dessen, der mit dir spricht, weil er einen Glauben hat an eine Allmacht Gottes, die uns vor allem beschützen wird.
    "Der Glaube an die Verfassung ist in Amerika so stark wie der Bibelglaube"
    Barenberg: Aber hätten Sie gedacht – viele fragen sich das ja –, dass wir die liberale Demokratie verteidigen müssen? Geht es Ihnen auch so, oder sind Sie gar nicht verwundert darüber, dass so was wir Ausgrenzung, Ablehnung, Abschottung, dass so etwas immer da ist und sich halt Bahn brechen kann in einer ganz bestimmten Situation?
    Klüger: Ich glaube, aus zwei Gründen trifft es mich nicht ganz so, wie Sie es beschreiben. Erstens habe ich eine Kindheit in der Irrationalität schon erlebt und habe nie richtig geglaubt, dass so was nicht irgendwo irgendwann wieder hochkommen wird, wenn auch in anderer Form. Dasselbe wiederholt sich nicht. Das Zweite ist, dass ich in einem Land lebe, wo der Aberglaube oder die Gläubigkeit, wie man's nimmt, immer schon hochgehalten wird und es immer Parteien gegeben hat, die mehr vom Glauben als vom Wissen und Lernen gehalten haben. Aber andererseits, aufseiten von Amerika, und das scheint mir ganz wichtig zu sein, diese in vieler Beziehung hier und da brüchige Verfassung hat uns über diese ganzen Jahre und Jahrzehnte hinweg geholfen, sodass die Kräfte des Irrationalen nie so hochgekommen sind wie in europäischen Ländern. Amerika ist seit 230 Jahren eine Demokratie und war nie etwas anderes. Und das war nicht der Fall in den europäischen Ländern.
    Barenberg: Das heißt auch, dass Sie sich größere Sorgen um die Entwicklung hier in Europa machen als in den Vereinigten Staaten?
    Klüger: Wenn ich mir Sorgen machen würde. Das heißt, dass ich eine ganz gute Amerikanerin bin, sogar jetzt noch. Dieser Glaube an die Verfassung ist in Amerika so stark wie der Bibelglaube. Die Verfassung ist heilig auf eine Weise, wie es in keinem anderen Land ist. In anderen Ländern ist die Verfassung ein Dokument. Nicht in Amerika. Und darin klammere ich mich. Ganz zerstören kann man das nicht.
    Barenberg: Klammern heißt aber auch, sicher sind Sie sich nicht, dass es einen Weg zum Besseren wieder nehmen wird.
    Klüger: Nicht sofort. Ich werde es wahrscheinlich nicht erleben, dass es wirklich besser wird. Aber ich meine, ich habe Kinder und Enkel, und ich wünsche ihnen doch noch ein gutes Weiterleben und ein gutes Auskommen mit sich selbst und der Umwelt. Und ich glaube, das ist schon noch drin. Aber die nächsten Jahre – da kann man nur den Kopf schütteln.
    Zerback: Den Kopf schüttelt die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Ruth Klüger im Interview mit meinem Kollegen Jasper Barenberg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.