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Sachbuch
Auf der Spur von Putins Gedanken

Viele im Westen verstehen die Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht. Der langjährige Russland-Korrespondent der "Financial Times", Charles Clover, hat versucht herauszufinden, von welchen Gedanken Putin sich leiten lässt. Seine Spurensuche stieß in amerikanischen und russischen Politkreisen auf großes Interesse.

Von Gregor Peter Schmitz | 08.08.2016
    Russland Präsident Wladimir Putin
    Was denkt der russische Präsident Wladimir Putin? (picture alliance / dpa / Mikhail Metzel)
    Zu erkunden, was im Kreml wirklich gedacht wird, gehörte schon immer zu den schwierigsten Übungen der Weltpolitik. Doch seit dem Ende des Kalten Krieges ist diese Übung erstaunlicherweise nicht unkomplizierter geworden: Ist der amtierende russische Präsident Wladimir Putin bloß ein Meister der Selbstinszenierung, der mit Oligarchen einen Pakt geschlossen hat, um sein Vermögen in Ruhe zu vergrößern? Oder wähnt sich der ehemalige KGB-Agent auf einem ideologischen Kreuzzug, Russlands ideologische Vorherrschaft nach dem Untergang des Kommunismus auf eine neue Grundlage zu stellen?
    Charles Clover, langjähriger Russland-Korrespondent der "Financial Times", hält in seinem Buch "Black Wind, White Snow: The Rise of Russia’s new nationalism" Letzteres für plausibler. Clover ist tief eingetaucht in die Gedankenwelt einst völlig unbekannter Intellektueller wie des Philosophen Alexander Dugin, deren Schriften – oft mit einem klaren Feindbild Europas - mittlerweile aber Putin persönlich stark beeinflussen. Clover schreibt über Vordenker Dugin:
    "Sein Buch war eine bunte Sammlung geopolitischer, faschistischer oder gar nazistischer Theorien, garniert mit dem Verweis auf eine politische Bewegung, von der ich noch nie gehört hatte: Eurasismus. Diese Theorie schien einen Plan zu beschreiben, die Sowjetunion wieder zu einen, als weltbeherrschendes Regime. In seinen Ausführungen war etwa diese Passage zu lesen: ‚Ein absoluter Imperativ der russischen Geopolitik ist die totale und ungezügelte Kontrolle Moskaus über die gesamte Länge der Schwarzmeerküste….deren nördlicher Teil sollte zu Eurasien gehören und Moskau gehorchen‘."
    Dass diese Thesen Gehör finden beim russischen Präsidenten, erschreckt Russlands Nachbarn - aber auch Westler, die lange auf mehr Dialog mit Putins Land setzten. Nach Clovers Einschätzung ist ein vertrauensvoller Dialog mit dessen Regierung schlicht nicht mehr möglich, weil die aktuelle russische Führung Vertreter westlicher Mächte schon seit Längerem für verweichlicht, für schwach und korrupt halte – befeuert von jenen eurasischen Ideologen, die sich zu den wichtigsten Einflüsterern russischer Entscheider entwickelt haben. Clover beschreibt deren Wirkung selbst so:
    "Es handelt sich dabei um Leute mit einer Angst einflößenden Vorstellung von Russland, die Pamphlete und Blogs schrieben, die in den 1980er- und 1990er-Jahren kaum Beachtung fanden. Aber aus irgendwelchen Gründen ist ihre Vision von Russland in den letzten fünfzehn Jahren Wirklichkeit geworden. Es ist eine Vision, die Russland als aggressive militaristische europäische Macht sieht, im Krieg mit seinen Nachbarn, isoliert von der internationalen Gemeinschaft – ein Land, das sich vom Westen abriegelt."
    Als stärkste Waffe im ideologischen Werkzeugkasten dieser Propagandisten sieht Clover den Nationalismus an, denn:
    "Ernest Gellner, vielleicht am meisten respektierter Nationalismusforscher des 20. Jahrhunderts, hat festgestellt: 'Wo immer die Idee des Nationalismus Wurzeln geschlagen hat, hat sie mit Leichtigkeit die modernen Ideologien überholt.'…Nationalismus triumphiert nicht, weil Nationalisten besser, stärker oder fähiger sind, sondern weil Nationalismus in Büchern oder Gedichten lange schon existierte, bevor Politiker damit begannen diese Idee auszunutzen, um Könige zu töten, Regime zu stürzen und neue zu errichten."
    In zahlreichen Beispielen belegt der US-amerikanische Journalist, wie perfekt ein Herrscher wie Putin nationalistische Gefühle seiner Bürger bedient und ausnutzt – etwa durch Sportspektakel, massive Aufrüstung und außenpolitische Abenteuer wie der Besetzung der Krim. Clovers Buch liest sich aber zugleich wie eine Art Meditation zur Frage, wie schwierig rationale Argumentation in Zeiten des schwindenden Vertrauens in Fakten und Institutionen geworden ist. Denn es sei ja durchaus bedenkenswert, so Clover, wie rasch mittlerweile selbst hoffnungslos falsche Ideen, die immer wieder zurückgewiesen wurden, den Rang einer Doktrin eingeräumt bekommen. Er analysiert:
    "Putins Idee von 'Eurasien' ist sozusagen eine geografische Hülle rund um eine Ideologie geworden. Nach rund 80 Jahren, in denen derlei Gedanken auf intellektuellen Diskurs und Bücher begrenzt blieben, haben sie nun eine echte Erfolgsgeschichte erlebt und sind zur offiziellen Staatsdoktrin geworden, offen unterstützt vom Staatsoberhaupt Wladimir Putin."
    Wer begreifen will, wie es dazu kommen konnte und wie Putin also heute "tickt", sollte Clovers Buch unbedingt lesen. In amerikanischen, aber auch russischen Politkreisen hat das Werk großes Interesse gefunden – und für jede Menge Ernüchterung gesorgt.
    Charles Clover: "Black Wind, White Snow - The Rise of Russia’s New Nationalism", Yale University Press, 2016