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Sachbuch
Die "Spiegel"-Bestsellerliste im Februar

Diesmal mit Büchern von komischen Heiligen, dem Tod von der Schippe Gesprungenen, Baumumarmern, Christenmenschen, Stoikern, Altbundeskanzlern, kunstsüchtigen Moslems, Selbstoptimierern sowie Pontifex-Beobachtern.

Von Denis Scheck | 12.02.2016
    Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?
    "Mein Hirn käst angesichts der Rückkehr der Religionen in den öffentlichen Raum weltweit: Ist dieses Comeback wirklich nötig?"
    "You will know my name is the Lord when I lay my vengeance upon thee:"
    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch.
    Diesmal mit Büchern von komischen Heiligen, dem Tod von der Schippe Gesprungenen, Baumumarmern, Christenmenschen, Stoikern, Altbundeskanzlern, kunstsüchtigen Moslems, Selbstoptimierern sowie Pontifex-Beobachtern.
    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen kümmerliche 2722 Gramm auf die Waage: zusammen 2406 Seiten.
    Platz 10: Monika Lierhaus mit Heike Gronemeier: "Immer noch Ich"
    (Ullstein Verlag, 272 Seiten, 19,99 Euro)
    Die Lebensgeschichte der Sportjournalistin Monica Lierhaus beeindruckt. Ihre Darstellung der schiefgelaufenen Operation und ihres Kampfs zurück ins Lebens ist frei von Larmoyanz, beschönigt aber nichts und mogelt sich auch nicht um heikle Punkte herum wie den Heiratsantrag vor laufender Kamera, die Trennung von ihrem Partner, ihr Gehalt bei der Fernsehlotterie oder den Shitstorm nach einem Interview, in dem sie sagte, dass ihr ohne OP viel erspart geblieben wäre. Ein höheres Reflexionsniveau hätte ich mir einzig bei der Schilderung ihrer Arbeit als Sportjournalistin gewünscht.
    Platz 9: Wilhelm Schmid: "Gelassenheit"
    (Insel Verlag, 119 Seiten, 8,00 Euro)
    Der moderne Stoiker Wilhelm Schmid hält in diesem lesenswerten Essay ein angenehm entspanntes Plädoyer für Kontenance im Angesicht von Alter und Tod.
    Platz 8: Papst Franziskus: "Der Name Gottes ist Barmherzigkeit"
    (Deutsche Übersetzung von Elisabeth Liebl, Kösel Verlag, 126 Seiten, 16,99 Euro)
    Diese Publikation ist ein großes Ärgernis, denn sie ist eine Mogelpackung: die Aufmachung suggeriert ein vom Papst selbstverfasstes Werk, tatsächlich handelt es sich nur um ein auf Buchlänge gestrecktes Interview mit Andrea Tornielli, in dem fromme Phrasen in ärgerlicher Redundanz aneinandergereiht werden. Dieses halbgare Büchlein reflektiert eine "Scheißegal-Hauptsache-die-Kohle-stimmt"-Haltung, die viele Bücher der Päpste in den letzten Jahrzehnten zum Ausdruck brachten. Wer als Autor so wenig Respekt vor dem Medium Buch und den zu seiner Erzeugung notwendigen Ressourcen hat, diskrediert sich nicht nur intellektuell.
    Platz 7: Navid Kermani: "Ungläubiges Staunen"
    (C.H. Beck Verlag, 303 Seiten, 24,95 Euro)
    Dieses übrigens auch herstellerisch herausragend schöne Buch ist eine blendende Einführung in die christliche Kunst, geschrieben von einem Moslem. Kermanis Kunstbetrachtungen belegen eindrücklich, dass man von außen mitunter mehr sieht als von innen, und vermögen auf hohem Niveau zu belehren und zu amüsieren, etwa wenn er zum "Garten Eden" von Hieronymus Busch schreibt, dieser sehe für ihn
    "... wie das Siegerland aus, hügelig, bewaldet und diesig zudem."
    Platz 6: Helmut Schmidt: "Was ich noch sagen wollte"
    (C.H. Beck Verlag, 239 Seiten, 18,95 Euro)
    Das letzte zu Lebzeiten Schmidts veröffentlichte Buch gewährt Aufschluss über seine Vorbilder. Neben Marc Aurel, Immanuel Kant und Max Weber kommt Helmut Schmidt dabei auch auf sein Verhältnis zur Religion zu sprechen:
    "Die Vorstellung, dass das Heil einer Religion in ihrer möglichst umfassenden Verbreitung liegen soll, war mir immer fremd. Heute halte ich sie für zunehmend gefährlich."
    Dieses Vermächtnis des Altbundeskanzlers sollte Deutschland annehmen.
    Platz 5: Andreas Englisch: "Der Kämpfer im Vatikan"
    (C. Bertelsmann Verlag, 384 Seiten, 19,99 Euro)
    Wie die Kreml-Astrologen früherer Zeiten besitzt der Vaticanista Andreas Englisch zu wenig Informationen, um ein scharfes Portrait des neuen Papstes zu zeichnen. Stattdessen bemüht er sich, aus altbekannten Fakten rund um den Zusammenbruch der Banco Ambrosiano 1987 ein Süppchen zu kochen, dessen Hauptzutaten unzählige Vielleichts, Möglicherweises und Unter Umständen sind. Das Ergebnis ist erwartungsgemäß ungenießbar.
    Platz 4: Jürgen Todenhöfer: "Inside IS"
    (C. Bertelsmann Verlag, 286 Seiten, 17,99 Euro)
    Am Ende seines Buchs über seine mutige Reise durch den Islamischen Staat, die er gemeinsam mit seinem Sohn Frederic unternahm, schreibt Jürgen Todenhöfer:
    "Ich hätte gerne einmal einen wirklich islamischen Staat besucht. Er hätte sich ruhig gegen westliche Ungerechtigkeiten und Anmaßungen zur Wehr setzen können. Dass ich am Ende nur einen Antiislamischen Staat kennenlernte, bedauere ich sehr."
    Das Buch ist ein wichtiger Anstoß zur Auseinandersetzung mit einem politischen Gräuel.
    Platz 3: Ildyko von Kürthi: "Neuland"
    (Wunderlich Verlag, 397 Seiten,19,95 Euro)
    Schlank, blond und faltenfrei möchte Ildyko von Kürthy sein, deshalb beginnt sie ein Jahr der Selbstoptimierung mit jeder Menge Detox, Botox und Hyaluronsäure, dafür ohne Alkohol, ohne Zucker und ohne Kohlenhydrate nach 18 Uhr, dem Vorsatz, den Keller aufzuräumen sowie eine "digitale" Diät einzuhalten mit festen Offline-Zeiten und einem Boykott von Internet-Großhändlern. Am Ende dieses in nerviger "Kreisch!"-Prosa verfassten Tagebuchs gelangt die Autorin zu einer Einsicht und einer Erkenntnis. Die Einsicht lautet:
    "Ein Leben ohne Lametta ist gut. Ein Leben ohne Nudeln nicht."
    Und die Erkenntnis:
    "Vielleicht auch mal die Problemzonen im Kopf bekämpfen statt immer nur die am Arsch."
    Da möchte ich nicht widersprechen.
    Platz 2: der Dalai Lama und Franz Alt: "Der Appell des Dalai Lama an die Welt"
    (Benevento Verlag, 56 Seiten, 4,99 Euro)
    Wie der Papst glaubt auch der Dalai Lama an das Stilmittel der Wiederholung – was auf den 56 Seiten dieses Interviewbändchens, in dem der Dalai Lama für mehr Ethik und weniger Religion plädiert, allerdings so wirkt, als litten die Gesprächspartner an Demenz.
    Platz 1: Peter Wohlleben: "Das geheime Leben der Bäume"
    (Ludwig Verlag, 224 Seiten, 19,99 Euro)
    Ein Buch, aus dem man in angenehm unprätentiösem Stil erfährt, dass Bäume einander Freunde sein können, wie das Internet des Waldes funktioniert und warum die industrielle Massenbaumhaltung in unseren Nutzwäldern genauso eine Sauerei sein könnte wie das, was wir unseren Schweinen antun. Jeder, der dieses Buch gelesen hat, betritt den Wald mit anderen Augen!