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... Sagte Mutter

Hal Sirovitz hat wahrscheinlich nur geerbt: "Vom Mütterchen die Frohnatur, die Lust, zu fabulieren". Auf dem Cover seines kleinen Buchs ist eine große schwarze Handtasche abgebildet, eine dieser Handtaschen mit Knipsverschluss und kurzem starrem Handgriff, in denen Mütter alles Lebensnotwendige aufbewahren. Denn wenn nicht sie selbst Taschentücher, Sicherheitsnadeln, Drops und vor allem Erfrischungstücher mit sich führen, wer tut das dann noch, auf die Brut ist ja nie Verlass.

Sabine Peters | 06.08.2002
    Der in New York lebende Hal Sirovitz gehört zu den bekanntesten Poeten der dortigen Szene; er tritt regelmässig bei Poetry Slams und bei MTV auf. Jetzt hat er mütterliche Lebensweisheiten, Ratschläge und Gedankenspiele gesammelt und zu kompakten Kurztexten verdichtet, und diese Texte münden im Grunde in einen einzigen Kernsatz, der eine Variation des ersten Gebots ist: Ich bin die Mutter, deine Mutter, die dich aus dem Nichts in die Welt geboren hat. So direkt ist Mutter aber nicht. Mutter arbeitet sich langsam und methodisch vor:

    Pass auf, dass du nicht schon wieder ein Glas zerbrichst,/ sagte Mutter, während du deine Milch trinkst./ Als Moses die zehn Gebote zerbrach,/ musste er nicht nur den Berg wieder raufklettern,/ um neue abzuholen, Gott hat ihn auch bestraft,/ indem Er ihn lange warten ließ, ehe er/ das Gelobte Land betreten durfte. Und vielleicht sollte ich dich/ nur aus Pappbechern trinken lassen & abwarten/ bis du deine eigenen vier Wände hast, um dir ein Glas vorzusetzen./ Du solltest dankbar sein, dass ich viel netter bin als Gott.

    Mutter ist lustvoll depressiv und aggressiv; ihre Auslassungen sind immer latent kindsmörderisch – dabei w ü n s c h t sie dem Sohn natürlich alles Gute, aber bei seiner Dusseligkeit fällt er leicht hin, er könnte sich den Hals brechen, läge tot im Sarg, und wer muss dann immer auf den Friedhof laufen und nach dem Rechten sehen? Eben.

    Mutter verheddert sich in Widersprüchen. Sie zieht permanent an der Nabelschnur, sie verachtet ihren Sohn, sie verachtet eigentlich die ganze Welt; logisch. Mutter segelt mühelos vom Bereich der Politik in den der Staubflusen; sie allein ist es, die ihren Sohn durch und durch kennt; sie löst jedes Rätsel mit einem Hieb, und der Dreh- und Angelpunkt der Welt ist und bleibt sie selbst, basta. Zitat: "Es gibt keinen Beweis, dass Gott da oben ist,/ sagte Mutter. Aber niemand kann beweisen,/ dass Er nicht dort ist.... an deiner Stelle würde ich/ in die Synagoge & auf Nummer sicher gehen/ .... In der Hölle wird es dir nicht gefallen./ du hast es nie gemocht, wenn es heiß war./ Und wie kann ich dich dann besuchen?/ Engeln ist der Zutritt verwehrt."

    Mutter ist hinreißend. Und es ist anzunehmen, dass dieses kleine Buch sich in Windeseile verbreitet; es wurde bereits ins zahlreiche Sprachen übersetzt und wird mit Sicherheit überall verstanden, wo es Mütter und Kinder gibt. Hal Sirovitz´ Texte werden "Prosagedichte" genannt, und das ist ein bisschen übertrieben, denn die Gedichtform, in die er mütterliche Reden presst, leuchtet einem keinesfalls ein; die Zeilen entsprechen bestenfalls einzelnen Sinnabschnitten, schlechtestenfalls brechen sie unmotiviert irgendwo ab - aber das nimmt man bei lustvollen Lektüre nicht weiter übel. Bedauerlicher ist, dass etwa in einem Viertel der Texte Mutters Sohn zu Wort kommt. Seine Erfahrungen und Einsichten in Sachen Liebe sind tendenziell melancholisch, sie wollen zusätzlich noch komisch sein und haben die Rezensentin völlig kalt gelassen. Da liest man dann etwa, Zitat: "Auf der Party waren seine Hände auf deinen Brüsten./ aber als wir zusammen rausgingen, / hast du mich bloß deine Kaffeetasse anfassen lassen." Und? Was soll das? Mutter hat eben doch recht, der Sohn ist und bleibt ein Dussel.

    Was reizt einen so sehr zum Lachen an dem Typ Mutter, den Sirovitz aufs Korn nimmt? Oft ist es sicherlich die Verquertheit der Gedankengänge und Schlussfolgerungen: Mutter ist eine Sophistin durch und durch, nur, anstelle von Logik hält sie einem den Schein von Logik vor – aber dicht daneben ist eben auch vorbei. Ihre Reden folgen etwa den Regeln des Traums oder des Unbewussten; sie kennen kein Entweder - Oder, sondern nur ein Nebeneinander; oft sind ihre Argumente, jedes für sich genommen, durchaus schlüssig, aber zusammengenommen heben sie einander schlicht und einfach auf. Darüber lacht man. Man lacht aber auch, weil der Typ oder das Phänomen "Mutter" hier so deutlich zwischen Extremen angesiedelt ist: Mutter ist ohnmächtig und allmächtig. Auch hier scheint es in der allgemeinen Wahrnehmung kein "Entweder- Oder" zu geben, die Mutter ist immer beides zugleich, oder sie springt jedenfalls mit schwindelerregender Geschwindigkeit zwischen diesen Extremen. Hat der normale Zeitgenosse die Mutter eben noch verhöhnt – im Mittelpunkt dieser Ohnmächtigen befindet sich eine Windel – so fürchtet er jetzt ihre Allmacht, das lässt sich ja nun bis in die bizarren, mütterfeindlichen Auslassungen eines Bert Brecht oder Heiner Müller nachlesen.

    Dabei sollte man sich anlässlich der Lektüre von Hal Sirovitz doch noch einmal auf das schöne Wort "Mutterwitz" besinnen: Mutterwitz ist der ursprüngliche, quasi angeborene Witz, und der "Witz" leitet sich ethymologisch vom Wissen, vom Verstand, von der Klugheit her. Deshalb sollten wir auf Mutter hören, einmal noch. Zitat: "Lehn dich nicht gegen die Autotür,/ sagte Mutter.... du könntest rausfallen. Du nutzt uns nichts,/ wenn du tot bist, & obwohl du uns auch jetzt nicht/ von großem Nutzen bist, wirst du hoffentlich mal,/ wenn du älter bist, zu etwas zu gebrauchen sein. Wenn/ du Arzt wirst, kannst du meinen Blutdruck messen / & mir Ärztemuster schenken, wenn/ du zu Besuch kommst. Ideal wäre allerdings, würdest du/ eine Zahnärztin heiraten, die meine Zähne nachsehen kann."