Donnerstag, 18. April 2024

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Salon, ägyptisch
Die Zirkel der Religionskritiker und Religionslosen in Kairo

Die ägyptische Revolution von 2011 war die Blütezeit der politischen Salons in Kairo. Hier wurde getrunken und geraucht, diskutiert und debattiert. Die meisten haben inzwischen geschlossen - nicht jedoch "Merit", der Salon eines Verlages in der Nähe des Tahir-Platzes.

Von Khalid El Kaoutit und Elisabeth Lehmann | 17.09.2015
    Ägyptische Demonstranten singen Friedenslieder auf dem Tahrir-Platz in Kairo
    2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo: Ein kurzes Aufatmen nach den vielen Jahren der Unterdrückung. (AFP PHOTO/MOHAMMED ABED)
    23:30 Uhr - nur drei Gäste sitzen in Mohammad Hashems Büro. Es ist noch zu früh für Kairoer Verhältnisse. Ein Freund ist mit seiner Laute vorbei gekommen.
    Die Luft ist stickig, alle hier rauchen Kette. Der Ventilator an der hohen Decke bringt nur wenig kühle Luft. Auf den Tischen im Gang stehen schwarzer Tee, Bier und Tequila. Butcher, ein zerzauster kleiner weißer Hund, huscht zwischen den Gästen hindurch.
    Mohammad Hashem sitzt am Kopf des langen Büros. Der kleine Mann Mitte 50 verschwindet fast hinter den Bücherstapeln auf seinem Schreibtisch. Er hat sie alle in seinem Verlag herausgegeben. Doch "Merit" ist mehr als ein einfacher Verlag.
    "Es gibt keinen Zweifel. 'Merit' spielt eine extrem wichtige Rolle im kulturellen Leben Ägyptens und generell."
    Zakaryja Ibrahim, ein älterer Herr mit Halbglatze und weißem Schnurrbart, organisiert Folklore-Festivals. Er kommt fast jeden Abend zu Hashem.
    "Ich sage dir was. Wir sind schon sehr lange Freunde, und seit der Januar-Revolution 2011 noch mehr. Vorher war ich nur sporadisch hier. Weil es hier immer viel Whiskey gab und ich kiffe viel."
    "Heh, pass auf, was du sagst."
    "Ach, das ist doch unwichtig. Ich bin auch bereit, das dem Innenministerium zu sagen. Ich kiffe nun einmal. Aber das ist nicht unser Thema. Also, seit der Januar-Revolution komme ich regelmäßig hierher. Kann ich kurz ans Telefon gehen?"
    Die Januar-Revolution, also der Aufstand der Ägypter im Jahr 2011, ist fast jeden Abend Thema. Die Verlagsräume liegen nur wenige Meter vom Tahrir-Platz entfernt. Demonstranten haben damals auf dem Boden geschlafen, sich hier gewaschen und etwas zu essen bekommen - bis Langzeitpräsident Hosni Mubarak im Februar 2011 endlich abtrat, erzählt Mohammad Hashem zurückhaltend:
    "Bei der Vorbereitung der Revolution haben die Intellektuellen eine große Rolle gespielt. Auch beim Sturz der Muslimbrüder. Inwieweit dieser Ort eine Rolle gespielt hat, weiß ich nicht. Ich betrachte ihn eher als ein Archiv. Jeder, der etwas erfahren will, kann herkommen."
    Die Revolution war die Blütezeit der politischen Salons in Ägypten. Ein kurzes Aufatmen nach den vielen Jahren der Unterdrückung. Doch die Revolution ist Geschichte - und "Merit" ist der einzige Salon, der geblieben ist, sagt Zakaryja Ibrahim.
    "Es gibt keine öffentlichen Orte mehr wie diesen hier. Ansonsten nur in der Zentrale der Partei, in der ich Mitglied bin. Da können wir Al Sisi noch kritisieren. Aber außerhalb, nein - aber hier kann man das!"
    Mohammad Hashem, der Verleger und Salon-Begründer, ist dünn, seine Wangen sind eingefallen von den vielen Hungerstreiks, die er gestartet hat für die politischen Häftlinge im Land. Seine feinen Haare stehen in alle Richtungen. In Europa würde man ihn wohl als links bezeichnen. Er ist politisch unabhängig, glaubt nicht an Gott. Es ist ihm egal, welche Hautfarbe oder sexuelle Orientierung seine Gäste haben.
    "Wir sind hier ein Privatunternehmen. Ein Verlag. Hier geht es nicht, dass jemand kommt und sagt, ich bin zwar für Literatur, aber ich will mich mit diesem Typen streiten. Wir sind kein Ghetto. Aber hier kennt jeder jeden. Jeder vertraut jedem."
    Ortswechsel. Das Atelier von Adel El Siwi liegt in einer typischen Kairoer Downtown-Wohnung. Meterhohe Decken, edles Parkett, an den Wänden riesige Gemälde. Alle stammen von El Siwi.
    Der Künstler hat schon in der ganzen Welt ausgestellt. Er ist einer der intelligentesten ägyptischen Köpfe, ist früher von Café zu Café gezogen - als sie noch Orte des Gesprächs waren.
    "Ich bin noch aus einer älteren Generation, die vor dem Internet. Wir lieben das direkte, offene Gespräch."
    Die Ägypter haben schon immer gerne debattiert. Über alles und jeden, bei Wasserpfeife und Tee. Und die Revolution hat Themen ans Licht befördert, die früher Tabu waren beziehungsweise nie in Frage gestellt wurden. Religion zum Beispiel. Die Ägypter sind zwar auf der einen Seite in den vergangenen Jahren immer strenger geworden, wenn es um den Glauben geht. Doch es wächst auch die Zahl derer, die Fragen stellen.
    "Die Kritik an der Al Azhar, also der islamischen Universität in Kairo, auch die Kritik an den Muslimbrüdern und den Salafisten - ja, die Kritik an der religiösen Idee an sich hat sich ausgeweitet. Vor allem bei jungen Menschen. Viele junge Leute haben der religiösen Idee den Rücken gekehrt. Es ist sogar eine Bewegung entstanden, die nennen sich 'Bewegung der Atheisten'."
    Wer sich allerdings öffentlich dazu bekennt, muss mit Konsequenzen rechnen. Ein 21-jähriger Student wurde Ende vergangenen Jahres zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er sich auf Facebook als Atheist bezeichnet hatte. Ihm wurde vorgeworfen, er habe den Islam beleidigt.
    Solche Gedanken äußert man also lieber nur im Privaten. Oder bei Mohammad Hashem. Es ist mittlerweile drei Uhr nachts. Es kommen immer neue Gäste. Ramy Yehia sitzt auf der improvisierten Couch und macht sich ein Bier auf. Yehia ist Dichter. Er ist schwarz. Und er schreibt über Religion. Am Anfang wollte kein Verlagshaus in Ägypten ihm eine Chance geben. Außer Hashem.
    "Religion ist überall tabu. Dass wir hier normal darüber diskutieren, sieht für Außenstehende so aus, als würden wir viel darüber reden. In Wahrheit ist es kein besonderes Thema. Wir reden darüber, genau wie über Sex oder Fußball, Literatur oder Politik."
    Yehia klickt sich durch Facebook auf seinem Telefon und stolpert über einen interessanten Eintrag:
    "Hashem, eine Freundin schreibt auf Facebook: Ich habe heute in einem Geschäft einen Dialog gehört. Der eine Mann sagt: Hast du gesehen, die vom IS haben vier geköpft? Der andere: Wirklich? Aber das sind dann eher keine Muslime. Mann eins: Die vom IS haben eigentlich gute Ziele, aber die Umsetzung ist falsch. Sie wollen alle Nicht-Muslime vernichten. Und das ist eigentlich halal. Aber sie übertreiben es ein bisschen. Der zweite sagt: Das stimmt. Das sind echte Gläubige, aber ein bisschen extremistisch."
    Die Männer in der Runde schauen sich ratlos an. Auf solche Unterhaltungen haben auch sie keine Antworten mehr. Sie wundern sich nur noch, wie die extremistische Variante einer Religion den Alltag durchwirkt. Sie sind müde, lehnen sich zurück, ziehen an ihren Zigaretten und genießen lieber noch ein bisschen die Musik.