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Sammelsurium hübscher Träume

Die amerikanische Autorin Erin Morgenstern entfaltet in ihrem Erstlingsroman ein Feuerwerk der Fantasie. Sie entführt uns in eine Wunderwelt des Zirkus, erzählt vom Kampf zweier Zauberer, von der Macht der Magie und von der ganz großen Liebe.

Von Martin Grzimek | 15.01.2013
    Das Gebäude ist so grau wie der Gehweg davor und der Himmel darüber, und es wirkt so unbeständig wie der Himmel darüber, als könnte es sich jederzeit in Luft auflösen. Durch den unscheinbaren grauen Stein ist es von den umliegenden Häusern kaum zu unterscheiden, nur ein mattes Schild an der Tür hebt es ein wenig hervor. Selbst die Schulleiterin im Inneren ist in dunkles Anthrazit gekleidet. Trotzdem wirkt der Mann im grauen Anzug fehl am Platz.

    Erin Morgenstern, eine 33-jährige amerikanische Autorin aus Massachusetts, hält es in ihrem Debütroman "Der Nachtzirkus" mit der Betonung der Farben, auch wenn sie in dieser Passage etwas trist und eintönig ausfallen. Doch keine Sorge. Da sich in dem Roman das Leben hauptsächlich in und um einen Zirkus herum abspielt, da es um Magie und Zauberei geht, können wir noch so manches Feuerwerk an bunten Lichtern und aufblitzender Fantasie auf den folgenden vierhundert Seiten erwarten. Im Vordergrund steht nämlich eine Wunderwelt, die so prall angefüllt ist von Illusionen und Imaginationen, von Mirakeln und Täuschungskünsten, dass uns angesichts purer Unwahrscheinlichkeiten schon zu Beginn des Romans der Mund offen stehen bleibt.

    Die Teetasse auf dem Schreibtisch beginnt zu wackeln. Die Oberfläche der Flüssigkeit schlägt kleine Wellen, und über die Glasur ziehen sich kleine Risse; dann zerfällt das geblümte Porzellan in Scherben. Der kalte Tee überschwemmt die Untertasse und tropft auf den Boden, wo er auf dem gebohnerten Holz klebrige Spuren zieht. Das Lächeln des Zauberers verschwindet. Mit gerunzelter Stirn schaut er auf den Schreibtisch, und die Teepfütze erhebt sich langsam wieder vom Boden. Die Scherben fliegen auf und ordnen sich um die Flüssigkeit herum, bis die Tasse wieder heil ist und feiner Dampf von ihr aufsteigt. Das Mädchen starrt mit großen Augen auf die Tasse.

    Das Mädchen, von dem hier die Rede ist, heißt Celia und der Zauberer Hector Bowen, bekannt unter dem Künstlernamen Prospero. Er ist Celias Vater. Der Ort, an dem die Teetassenszene spielt, ist das Büro eines Theaterdirektors in New York, und wir befinden uns im Februar des Jahres 1873. Celia ist gerade einmal fünf Jahre alt und, obwohl sie es noch nicht weiß, schon zu Großem auserkoren. Denn Prospero, der alternde Magier, hat einen Rivalen in seiner Zunft, einen gewissen Alexander H., mit dem er "Spiele" veranstaltet, in denen Schüler der beiden Lehrmeister aufeinandertreffen und an deren Stelle ihre artistischen Kräfte messen.

    Diesmal nun sind Celia auserwählt und Marco, ein Junge, den sich Alexander aus einem Waisenhaus geholt hat. Denn er glaubt, dass bei richtiger Anleitung und ausreichend intellektueller Bildung jeder ein Zauberer werden kann. Prospero hingegen vertraut mehr den familiären Anlagen und sieht in seiner Tochter bereits den Spross eines Ebenbildes seiner selbst. Der Wettstreit ist also über die Köpfe der beiden Kinder hinweg beschlossene Sache, man weiß nur noch nicht, wo und wann er stattfinden soll. Nach etlichen Jahren der Ausbildung, es geht schon auf die Jahrhundertwende zu, findet sich ein geeigneter Ort – es ist der Cirque de Rêves, der Zirkus der Träume, geschaffen von einem genialen Theaterproduzenten, dem Engländer Chandresh. Doch bevor es gegen Ende des Jahres 1902 und dem Ende des Romans zum entscheidenden Wettkampf kommt, gibt es eine folgenschwere Verkettung der Umstände.

    Einander unbekannt und ahnungslos in Bezug auf die Rolle, die ihnen ihre Magister zugeteilt haben, begegnen sich Celia und Marco und – wie kann es anders sein? – verlieben sich unsterblich ineinander. Da auch erfahren wir endlich, worum es bei dem "Spiel" in Wahrheit geht: des einen Sieg wird des anderen Tod bedeuten. Somit verwendet Erin Morgenstern für das Gerüst ihrer Geschichte einen klassischen Konfliktstoff, der inzwischen so abgegriffen und in Literatur und Film tausendfach variiert und trivialisiert worden ist, dass jeder selbstbewusste Autor eigentlich nur noch davor zurückschrecken kann. Auch Erin Morgenstern, die Kunst und Theater studierte, hat das natürlich gemerkt. Daher behandelt sie die Liebesgeschichte eher marginal, um sich um so mehr dem eigentlichen Motiv ihres Erstlingsromans zu widmen: der Magie, der Zauberei, der Fantasie – präsentiert durch die Wunderwelt des von ihr geschaffenen Cirque de Rêves, dem Nachtzirkus.

    Der Zirkus kommt überraschend. Es gibt keine Ankündigung, keine Reklametafeln oder Plakate an Litfaßsäulen, keine Artikel und Zeitungsanzeigen. Plötzlich ist er da, wie aus dem Nichts. Die hohen Zelte sind schwarzweiß gestreift, Gold und Purpur fehlen. Bis auf die angrenzenden Bäume und umliegenden Wiesen sieht man keine Farben. Schwarzweiße Streifen vor grauem Himmel, eine farblose Welt aus Zelten in unterschiedlichen Formen und Größen, umschlossen von einem kunstvoll geschmiedeten Eisenzaun. Selbst die wenigen Flecken Erde, die man dahinter sieht, sind schwarz oder weiß, bemalt oder bestäubt oder mit einem anderen Zirkustrick gefärbt. Für Besucher ist er nicht geöffnet. Noch nicht.

    Was da so plötzlich aus dem Nichts heraus wie von Geisterhand auf irgendeine Wiese an wechselnden Orten auf der ganzen Welt aufgestellt wird, erscheint in den Schilderungen wie eine kleine Zeltstadt der Wunder. Die Autorin hat hier alle Register der Sprache gezogen, um ihren Vorstellungen von Artistik und Zauberei freien Lauf zu lassen. Es gibt Labyrinthe, lichtlose Räume, ein Zelt für die Erinnerung an Gerüche, in dem dazugehörige Landschaften auftauchen, einen Eisgarten mit blühenden, duftenden Rosen oder Gedichte, die wie lebendig gewordene Wörter an Wänden herabfließen. Hierin übertrifft sie Harry Potter auf ihre besondere Weise, uns in ein Reich der Träume holen zu wollen, das nicht nur vom alles manipulierenden Zauberstab und grotesken Wesen bevölkert ist, sondern vom Rausch der Sinne. Man soll sich wohl in völliger Orientierungslosigkeit nur noch einem Meer von Eindrücken überlassen, Wünschen gleich, die durch ihre bloße Nennung das Glück der Erfüllung verheißen. Ein arrangiertes Leben der Überraschungen, des unentwegten Staunens, Trost spendend und ein Geheimnis bleibend – das ist der Bauplan des Nachtzirkus, ein Sammelsurium hübscher Träume, aus denen man nicht mehr aufwachen will.

    Die Anleihen an Kunst, Musik und Literatur, die sich die Autorin für ihre Magical Mystery Tour von Shakespeare bis J. K. Rowlings nimmt, sind unübersehbar und sollen auch gar nicht versteckt werden. Denn Erin Morgenstern geht es in ihrem Roman, der vor Trivialitäten, Kitsch und eingeübten Handlungsmustern nur so trieft, nicht darum, ein weiteres Kinder-Fantasy-Märchen zu schreiben. Sie vermeidet jedes soziale Umfeld ihrer Figuren, berührt die Historie ihrer im 19. Jahrhundert angesiedelten Handlung mit keinem Wort, hält ihre Charaktere fern jeder Psychologie oder individuellen Herkunft. Stattdessen schwelgt sie in völliger Geschichtslosigkeit. Je seelenloser ihre Protagonisten, je leerer die Bilder sind, die sie erzeugt, desto schöner wird alles.

    Wie man die Musik als eine Ansammlung von Tönen definieren könnte, die Malerei als ein Aufeinandertreffen von Farben, so könnte man in Bezug auf den Roman "Der Nachtzirkus" sagen, er benutze die Sprache nur noch als bloße Dekoration ihres Inhalts. Vom Anfang bis zum Ende begegnen wir so der Vorstellung einer völlig artifiziellen Welt und Menschen, die nur noch weiterexistieren, weil sie keine widersprüchlichen Erfahrungen mehr machen. Das Leben ein Kunstprodukt, nicht nur ein Traum, aus dessen Stoff es nach Shakespeare gemacht ist. Das scheint etwas Faszinierendes zu haben. Jedenfalls waren in den USA auf Anhieb eine halbe Million Leser von dieser Vision begeistert und kauften Erin Morgensterns Debütroman. Mindestens ebenso viele kauften ihn allerdings nicht, was darauf hoffen lässt, dass es noch genug Leser gibt, die über ihre Träume nachdenken, nachdem sie aufgestanden sind und sich eine Zeit lang von sich selbst verfolgt fühlen. Das wäre dann schon fast Literatur.

    Erin Morgenstern: Der Nachtzirkus.
    Ullstein Buchverlage, Berlin 2012. 464 S., 19,99 Euro