Dienstag, 23. April 2024

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Sara in der Nacht

Sylvie Germain ist eine Spezialistin für Wunder und Bilder und für Wunderbilder, mit einem davon eröffnet sie ihren neuen Roman:

Sacha Verna | 19.07.2001
    Ein rollendes kleines Etwas, dottergelb als wäre die Sonne von der Gewalt des Unwetters zur Erde geschleudert worden und auf Zitronengrösse geschrumpft.

    Dieses Etwas rast im strömenden Regen über eine Landstrasse. Es ist ein kleiner Junge im Wachsmäntelchen, der auf seinem Dreirad zum Teufel saust, wohin ihn der Vater geschickt hat. Er wird dort nie ankommen, denn der liebe Gott und Sylvie Germain planen anderes mit ihm. Gott schickt ihm einen Engel und Sylvie Germain macht ihn zum Helden einer Geschichte, die ihre Wurzeln in der Bibel und ihre Krone in einer Schöpfung hat, in jener typisch Germainschen Mischung aus Mythen, Magie und Metaphysik.

    Sara in der Nacht basiert auf dem Buch Tobit. Darin wird berichtet, wie Tobias, der Sohn des frommen Israeliten Tobit, begleitet vom Himmelsboten Rafael auszieht, um seinen Vater vom Unglück und seine spätere Braut Sara von einem Fluch zu befreien. In Sylvie Germains Version besteht das Unglück des Vater im Verlust seiner über alles geliebten Ehefrau Anna (in der Bibel: Hanna), die von einem Ausritt ohne Kopf, genauer, von einem ungünstig gespannten Draht guillotiniert zurückkehrt Théodore alias Tobit verliert darüber die Gewalt über seinen Körper und beinahe den Verstand.

    Der Fluch Saras wiederum ist die Schönheit, ihre Küsse haben schon sieben Männer das Leben gekostet, und ohne die Tipps von Engel Rafael wäre es im entscheidenden Augenblick auch um Tobias geschehen. Es wird überhaupt enorm viel gestorben auf diesen 220 Seiten, und in vielen Fällen erhalten die Dahingegangenen widriger Umstände wegen nicht einmal ein Grab. Am besten Bescheid über Begrabene und Unbegrabene weiss Deborah, Tobias´ Urgrossmutter, die hier als Verkörperung des katastrophenreichen 20. Jahrhunderts, und, so lange wie nötig, als Tobias´ Ersatzmutter fungiert. Sie bildet das Bindeglied zwischen den beiden Erzählsträngen, zwischen der Chronik einer mehrfach vertriebenen, vom Holocaust dezimierten Familie und der in die Gegenwart verpflanzten Tobit-Saga, die zugleich ein Märchen über das Erwachsenwerden ist.

    Nun braucht ein Autor, der sich in einem Buch auf die Bibel beruft, die Glaubwürdigkeit der Handlung nicht unbedingt zum obersten Gebot zu erheben zum Glück, denn sonst müsste man "Sara in der Nacht³ als haarsträubendes Konstrukt betrachten. Ein Autor, der sich in einem Buch auf die Bibel beruft, sollte sich jedoch wie jeder andere auch über seinen Stil Gedanken machen, darüber, ob altertümelndes Raunen und eine literarische Blumentopf-Ästhetik wirklich zur Lesbarkeit einer Geschichte beitragen, die an sich schon so bedeutungsschwanger daherwankt, dass eine Sturzgeburt zu befürchten steht. Bei Sylvie Germain sind die Frauen "emsig" und die Männer ergötzen sich am "Duft ihres Busens", ständig flattern irgendwo blendendweisse Silberreiher herum, jubeln Grasmücken und Kiebitze und jagen Wolken über den schiefer- oder türkisblauen Himmel. Keine Seite ohne symbolistisches Gefuchtel, keine Seite ohne rosarote Sprachgemälde, wovon die sausende Sonne am Anfang bei weitem das gelungendste ist. An einer Stelle heisst es:

    Jedes Element hat Abgründe, Dünungen, Stürme, aus denen Schönheit entsteht; die höchsten Verheissungen, die verwegensten Bekundungen von Schönheit aber birgt das fünfte, das immaterielle Element, die Sprache Gewitter an Schönheit.

    Ein Schirm sei also dringend empfohlen. Kommt hinzu, das Sylvie Germain keine Trivialisierung auslässt, mit der sich in den Salons der Schmalspurintelligentsia nicht Punkte holen liessen. Ausgerechnet auf Gottfried Benns "Morgue" stösst Klein-Tobias in der väterlichen Bibliothek und verspürt auch gleich "einen Schock, eine schwarze Erleuchtung". Ausgerechnet an Caravaggio und Francis Bacon orientiert sich Saras malender Vater, während er vergeblich versucht, den "stummen Schrei" seiner verzweifelten Tochter auf die Leinwand zu bringen. Ja, ja, die Kunst ist eine gefühlige Sache, aber ein Roman leider kein Poesiealbum. Was wohl als Parabel über die Macht des Schicksals und die Kraft der Liebe gedacht war, gerät hier zum Epösschen, in dem Kitsch und Klischees das Tanzbein schwingen und Kalenderphilosophen Sentenzen pfeifen.