Donnerstag, 18. April 2024

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"Sarajevo Marlboro"

Aus dem zerfallenen Jugoslawien stammen einige Autoren, die zum Besten gehören, was die zeitgenössische Literatur zu bieten hat. Wie Miljenko Jergović. Jergović stammt aus Bosnien, er lebt heute im Exil, nur ein paar Hundert Kilometer von seiner Heimat entfernt im kroatischen Zagreb. Jergovićs Romane "Buick Rivera" und "Das Walnusshaus" sorgten 2006 und 2008 für Aufsehen. Jetzt hat sein deutscher Verlag jenes Buch neu übersetzen lassen, mit dem Jergović Mitte der 90er die internationale Bühne betrat.

Vorgestellt von Uli Hufen | 12.06.2009
    Manchmal geben selbst nackte Fakten wichtige Hinweise. Der Schriftsteller Miljenko Jergović wurde 1966 in Sarajevo geboren. Als serbische Truppen am 5. April 1992 begannen, seine Heimatstadt von den umliegenden Bergen aus zu beschießen, war er 26 Jahre alt und schon ein Star. Ende der 80er hatte Jergović als Dichter debütiert und sich nebenbei schnell einen Namen als scharfzüngiger Journalist gemacht. Dann kam der Krieg, und der Krieg machte aus der lokalen Berühmtheit Miljenko Jergović einen Schriftsteller, den die ganze Welt kennt.

    Nun ist der Krieg, wie jeder gute Mensch weiß, kein Freund von Kunst und Literatur. Tote Schriftsteller schreiben nicht, tote Leser lesen nicht. Andererseits produziert der Krieg mehr Geschichten als irgendeine andere menschliche Tätigkeit. Bestenfalls die Liebe reicht ihm in dieser Hinsicht das Wasser. Wer im Krieg war und überlebt hat, hat etwas zu erzählen. Und die Leute hören gewöhnlich zu oder lesen, selbst dann, wenn einer als Erzähler oder Schriftsteller nicht viel kann. Dabei gibt es im Grunde nur zwei Regeln: Konzentriere dich auf das, was du erlebt hast! Und: Vermeide jedes Moralisieren! In "Sarajevo Marlboro", seinem Debüt als Prosaautor, tat Miljenko Jergović genau das und bewies auf Anhieb, dass er nicht nur kein schlechter, sondern ein begnadeter Erzähler ist.

    Eines Morgens, am fünften Tag, war in der ganzen Wohnung das Wasser gefroren. Da fiel mir ein, dass ein Kaktus keinen Frost verträgt. Ich nahm ihn mit in den Keller und stellte ihn vor den Ofen, den wir mit Kohlenstaub beheizten. Weder zu nah dran noch zu weit weg. Genau dahin, wo es Kakteen wie Menschen angenehm ist. Dachte ich jedenfalls.
    Am nächsten Tag hing er über den Rand des Blumentopfs. Wie? Na ja, kopfüber, als wäre die Sonne irgendwo unter ihm.


    Der Krieg stellt die Dinge auf den Kopf: Was sonst verboten ist, ist plötzlich an der Tagesordnung und was normal war, wird schwierig, lebensgefährlich oder unmöglich: Essen, trinken, lesen, schlafen, reden, spazieren gehen oder Topfpflanzen besitzen. Miljenko Jergović hat das als sehr junger Mann wider Willen gelernt. Ein Jahr lang lebte er im eingeschlossenen Sarajevo, bevor er 1993 nach Zagreb entkam. Ein Jahr später hatte er aus seinen Erlebnissen "Sarajevo Marlboro" destilliert: 29 meist sehr kurze Geschichten, in denen es einzig und allein darum geht zu beschreiben, wie der Krieg den Alltag, das normale Leben vernichtet. Die Kämpfe, die Geschosse und die Soldaten bleiben im Hintergrund: als Gedanke, als Schatten, als Geräusch:

    Über mir pfeift es, es folgen zwei, drei Sekunden der Anspannung, und dann gibt es unten in der Stadt eine Explosion.

    …heißt es in einer typischen Formulierung. Manchmal kommen die Granaten näher, zerschlagen wertvolle alte Spiegel, setzen Häuser in Brand und töten. Doch für den Krieg als militärische Operation interessiert Jergović sich nicht. Seine Helden heißen Rade und Jela, Elena und Zoran, Izet und Zvonko und sie sind weder Generäle noch Politiker, sondern Bürger von Sarajewo. Viel erfahren wir nicht von ihnen, nicht selten tragen sie nahezu märchenhafte Züge. Jergović ist kein Reporter, sondern ein magischer Realist. Zuweilen beschleichen den Leser Zweifel, ob diese Geschichten wirklich genau so passiert sind. Dabei ist immer sicher, dass sie ganz konkret aus dem geronnen sind, was Jergović im Krieg gesehen und erlebt hat. Jergović erschafft diesen magischen Realismus, in dem er das Leben seiner Figuren auf jeweils ein entscheidendes Detail hin zuspitzt, auf den einen Moment, an dem der Krieg plötzlich in den Alltag bricht, und nach dem nichts mehr ist wie es war. Für immer. Dabei kann es um einen Kaktus gehen oder um einen Apfelbaum, um einen Brunnen oder eine Kneipe, um den Klang einer vorbeifahrenden Straßenbahn, die Verpackung von Zigaretten oder einen alten VW Käfer. Die Wahrheit ist kein Panoramabild, die Wahrheit liegt in winzigen Details verborgen.

    Das klingt einfach und liest sich leicht. Doch wie meistens in solchen Fällen ist die große Leichtigkeit auch hier das Ergebnis großen Formbewusstseins und großen Könnens. Jergović verfügt über ein feines Ohr für kleinste Tonnuancen und balanciert sicher auf Messers Schneide: Wenn über den Krieg geredet oder geschrieben wird, ist die Gefahr groß, zum Moralisten oder zum Zyniker zu werden. Jergović vermeidet beides, als sei das die leichteste Übung der Welt.

    Weil alles so leicht wirkt, fällt auch erst beim zweiten Lesen auf, wie überaus kunstvoll und konsequent "Sarajevo Marlboro" gebaut ist. Jergović hat sein Buch in drei Teile gegliedert. Teil I trägt den Titel

    Unumgängliches Detail der Biografie

    …und stellt eine Art Präludium vor. Darin zeigt Jergović uns den Erzähler als Kind und berichtet, wie dieser lange vor dem Krieg Zeuge eines Autounfalls wird, bei dem vier junge Männer sterben. Vorwarnung oder Einübung auf das, was kommen sollte? Man weiß es nicht.
    Der Hauptteil heißt

    Rekonstruktion der Ereignisse

    und leistet genau das, in insgesamt 27 kurzen Erzählungen. Der letzte Teil ist überschrieben mit

    Who will be the witness? (Wer wird Zeuge sein?)

    Dabei handelt es sich um eine Art Coda, einen Abgesang auf Kunst und Literatur unter dem Eindruck der brennenden Bibliotheken von Sarajevo.

    Nach den vielen willkürlichen oder zufälligen Feuern ist eine Generation bitterer Realisten herangewachsen, die fähig wäre, emotionslos den Louvre brennen zu sehen, und nicht einmal ein bereitgestelltes Glas Wasser daraufschütten würde. Warum sollte man auch den Flammen entreißen, was menschliche Gleichgültigkeit verschlungen hat?

    Hier, ganz am Ende von "Sarajevo Marlboro", wo es ganz konkret um die eigene Arbeit als Schriftsteller geht, spürt man, dass Jergović Mühe hat, den kühlen Tonfall zu halten. Der Versuchung, in Sentimentalitäten über die Bedeutung von Kunst und Kultur zu verfallen, will Jergović widerstehen, um jeden Preis. Darin erweist sich der Bosnier als exaktes Gegenstück zu Susan Sonntag, die im brennenden Sarajevo "Warten auf Godot" inszenierte. Jergović erlaubt sich keine Illusionen darüber, was Literatur im Angesicht des Krieges leisten kann. Bücher sind schön, solange sie nicht verbrannt sind. Im Notfall spenden sie Wärme. Mehr nicht.
    Man könnte ergänzen: Wenn der Krieg vorbei ist, werden neue Bücher geschrieben. Große Bücher wie "Sarajevo Marlboro".

    Miljenko Jergović: Sarajevo Marlboro. Erzählungen.
    Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert, Mit einem Nachwort von Daniela Strigl, Schöffling Verlag, Frankfurt. 200 Seiten. Gebunden. Euro 18,90