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Sarajevo oder: Die Lunte am Pulverfass Europa

Der Atem der Geschichte wird spürbar, wenn durch politische Attentate die normalen Geschehensabläufe erschüttert werden. Durch einen Mord soll der Gang der Geschichte herumgerissen werden. Meist nehmen die Attentäter anschließende Verfolgung und Hinrichtung in Kauf.

Von Robert Gerwarth | 03.11.2013
    Aus Anlass des 50. Jahrestages der Ermordung von John F. Kennedy widmen wir eine vierteilige Essayreihe den "Politischen Attentaten im 20. Jahrhundert". Der in Dublin lehrende Historiker Robert Gerwarth untersucht in der ersten Folge die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand von 1914.

    Sarajevo oder: Die Lunte am Pulverfass Europa
    Von Robert Gerwarth

    Der 28. Juni 1914 war ein strahlend schöner Sommertag. Die bosnische Hauptstadt Sarajevo erlebte nach einigen regennassen Wochen eine unverhoffte Wiederkehr des Sommers. Die Terrassen der Cafés waren gut gefüllt und die öffentlichen Plätze und Promenaden voller Leben. Entlang der mit bosnischen und österreichisch-ungarischen Fahnen geschmückten Wasserpromenade am Miljacka-Fluss hatten sich neben den üblichen Sonntagsspaziergängern Tausende Schaulustiger eingefunden, schließlich erwartete die Stadt an diesem Tag hohen Besuch: Der Thronfolger der k. und k. Monarchie Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie hatten sich zur offiziellen Visite angekündigt. Seine bosnischen Untertanen wollten ihm einen würdigen Empfang bereiten.

    Doch die Festtagsstimmung täuschte. Sowohl die lokalen Honoratioren als auch die prominenten Gäste wussten, dass nicht alle Bewohner Sarajevos dem Besuch des künftigen Kaisers entgegenfieberten. Seit Bosnien im Rahmen der "Annexionskrise" von 1908 unter österreichisch-ungarischer Verwaltung stand, hatte sich das Verhältnis zwischen Wien und den bosnischen Serben zunehmend verschlechtert. Insbesondere serbische Nationalisten, beflügelt durch die Waffenerfolge Belgrads in den zwei Balkankriegen von 1912 und 1913, sahen in den Habsburgern das größte Hindernis für die Verwirklichung ihres Traumes: der Errichtung eines großserbischen Reiches unter Einschluss Bosniens und Herzegowinas.

    Vor diesem Hintergrund musste ihnen das gewählte Datum für den Besuch des Erzherzogs als besondere Provokation erscheinen: Erst wenige Tage zuvor, am 15. Juni, hatten serbische Nationalisten des Jahrestages der Schlacht auf dem Amselfeld gedacht, in der 1389 türkische Truppen eine serbisch geführte Armee im Kosovo vernichtend geschlagen und damit die Voraussetzung für die Eingliederung Serbiens in das Osmanische Reich geschaffen hatten.

    Doch auch aus einem anderen Grund hatte die Schlacht auf dem Amselfeld eine besondere Bedeutung in der Mythenwelt des serbischen Nationalismus. Die unausweichliche Niederlage vor Augen, hatte sich seinerzeit ein serbischer Ritter, Miloš Obilic, in den Augen fanatischer Nationalisten unsterblich gemacht, indem er den Oberkommandierenden des Osmanischen Reiches, Sultan Murad I., erdolchte, bevor er selbst von dessen Leibwächtern mit Schwertern zerhackt wurde.

    In den zahlreichen nationalistischen Geheimorganisationen, die in Bosnien und Herzegowina für eine Wiederauferstehung Großserbiens agitierten, wurde Österreich-Ungarn als das neue Osmanische Reich wahrgenommen. Und es mangelte nicht an irregeleiteten Jugendlichen, für die der Sultanmörder Miloš Obilic ein leuchtendes Vorbild, ein Symbol selbstloser Vaterlandsliebe, darstellte. Insbesondere die "Schwarze Hand", eine militante nationalistische Organisation aus serbischen Offizieren, war entschlossen, der "Provokation" des Besuchs von Franz Ferdinand ein klares Zeichen des serbischen Selbstbehauptungswillens entgegenzusetzen.

    Gleich sieben von der "Schwarzen Hand" ausgebildete Attentäter hatten sich in den Tagen vor dem 28. Juni in Sarajevo eingefunden, drei von ihnen waren aus Belgrad angereist. Ihr Ziel war es, durch einen Anschlag auf den Thronfolger die verhasste Doppelmonarchie in ihren Grundfesten zu erschüttern. Unter den Männern befand sich auch Gavrilo Princip, der 1894 geborene Sohn eines verarmten bosnischen Briefträgers, der bis dahin ein eher unauffälliges Leben geführt hatte, das ihn kaum dafür prädestinierte, alsbald zum berühmtesten Attentäter der Weltgeschichte zu werden.

    Nach dem Besuch einer Handelsschule in Tuzla, war der von seinen Lehrern als überdurchschnittlich intelligent eingestufte Princip auf ein Gymnasium in Sarajevo gewechselt, wo er Mitglied der nationalen Schüler- und Studentenbewegung "Junges Bosnien" wurde, das enge Beziehungen zur serbischen "Schwarzen Hand" unterhielt. So geschah es, dass der frischgebackene Abiturient Princip von dem eigentlichen Drahtzieher des Attentats, dem serbischen Offizier Dragutin Dimitrijevic, für eine spektakuläre Selbstmordaktion rekrutiert wurde: die Ermordung Franz Ferdinands, auf die der Freitod der Attentäter folgen sollte.

    Die Idee, durch ein gezieltes Attentat auf prominente Staatsmänner oder Vertreter der herrschenden Dynastien die Grundfesten des Staates aus den Angeln zu heben, war keineswegs neu. Allerdings hatte sich das gezielte Attentat im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und im beginnenden 20. Jahrhundert in erster Linie als Mittel der extremen Linken durchgesetzt, weniger als Instrument der radikalen Rechten. Insbesondere anarchistische Gruppen im zaristischen Russland, in Spanien, Italien oder Deutschland waren des Wartens auf die von Karl Marx versprochene Weltrevolution zunehmend überdrüssig und versuchten, die eigene organisatorische Schwäche und Hilflosigkeit gegenüber den staatlichen Unterdrückungsinstanzen dadurch zu kompensieren, dass sie spektakuläre Attentate inszenierten.

    Allein zwischen 1894 und 1912 wurden sieben Monarchen und Staats- oder Regierungschefs in Europa und den USA Opfer von Attentaten, eine Dichte an Anschlägen, die es berechtigt, vom ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert als der eigentlichen Blütezeit des europäischen Terrorismus zu sprechen.

    1881 war Zar Alexander II. nach einer Kette misslungener Anschläge einem Attentat der sozialrevolutionären "Narodnaja Wolja" zum Opfer gefallen.

    1898 ermordete der junge Anarchist Luigi Lucheni am Genfer See die österreichische Kaiserin Elisabeth, indem er ihr eine zugespitzte Feile ins Herz rammte.

    1900 starb der italienische König Umberto - bereits 1878 das Ziel eines Attentats - nach einem Anschlag.

    1894 verblutete Frankreichs Staatspräsident Sadi Carnot in Lyon nach einer Messerattacke des italienischen Anarchisten Santo Jeronimo Caserio.

    Und 1897 erlag der spanische Ministerpräsident Cánovas del Castillo dem Attentat des Anarchisten Angiolillo.

    Hinzu kam eine lange Reihe weniger erfolgreicher Attentate: 1878 entkamen König Alfons XII. von Spanien und Deutschlands Kaiser Wilhelm I. nur knapp der Mörderhand. Auch Otto von Bismarck sollte - wie sein Kaiser - gleich zwei Attentate überleben. 1883 schließlich versuchte der deutsche Anarchist August Reinsdorf vergeblich, die zur Einweihung des Niederwalddenkmals versammelten deutschen Fürsten kollektiv in die Luft zu sprengen.

    Der öffentliche Mord war Ausdruck des legitimen Widerstands gegen Willkürherrschaft - so zumindest sah es das anarchistische Konzept von der "Propaganda der Tat" vor, das all diesen Attentaten zugrunde lag. Vertreten von Intellektuellen der extremen Linken wie dem Franzosen Paul Brousse und dem italienischen Anarchisten Errico Malatesta sollte damit ein breites Publikum erreicht werden, das von schriftlichen Pamphleten und Traktaten nicht für die revolutionäre Sache zu mobilisieren war. Der hochsymbolische Gewaltakt gegen Vertreter der "Unterdrückungsregime" in aller Welt sollte eben nicht nur die Person an sich ausschalten, sondern - wichtiger noch - als Fanal für die revolutionären Massen wirken.

    Die Idee, mit Bomben und Pistolen Propaganda für ideologische Ziele zu machen, erfasste alsbald auch Länder außerhalb Europas. In den Vereinigten Staaten war es ein Deutscher, der ehemalige SPD-Reichstagsabgeordnete und Buchbinder Johann Most aus Augsburg, der nach seiner Auswanderung nach Amerika das Konzept der "Propaganda der Tat" um konkrete Handlungsanweisungen erweiterte.

    Sein 1885 veröffentlichtes "Handbuch zur Anleitung im Gebrauch und in der Herstellung von Nitroglyzerin, Dynamit, Schießbaumwolle, Knallquecksilber, Bomben, Zündern, und Giften" wurde schnell zum Klassiker in anarchistischen Kreisen und entfachte die Fantasie vieler deutscher, russischer und südeuropäischer Immigranten in den Vereinigten Staaten. Frenetisch feierte er auch die Ermordung des russischen Zaren von 1881:

    "Triumph! Triumph! Das Wort des Dichters hat sich erfüllt. Einer der scheußlichsten Tyrannen Europas, dem längst der Untergang geschworen worden und der deshalb in wüstem Racheschnauben unzählige Helden und Heldinnen des russischen Volkes vernichten oder einkerkern ließ - der Kaiser von Russland ist nicht mehr. [...] Die Träger der herrschenden Klassen [...] wissen, daß jeder Erfolg die wunderbare Kraft hat, nicht allein Respekt einzuflößen, sondern auch zur Nachahmung anzueifern. Da zittern sie denn einfach von Konstantinopel bis nach Washington um ihre längst verwirkten Köpfe."

    Mosts Einfluss auf die gewaltbereite anarchistische Szene war enorm. Auf eine Reihe von anarchistischen Bombenanschlägen in den USA folgte 1901 der Höhepunkt der anarchistischen Gewaltwelle in Amerika: der Mord an US-Präsident William McKinley, ausgeführt von einem polnisch-stämmigen Anarchisten.

    Der Mord an McKinley sollte allerdings auch die Grenzen des blutigen Anarchismus aufzeigen und viele vormalige Befürworter politischer Attentate zum Umdenken bewegen. Denn trotz der zahlreichen Anschläge auf Politiker und gekrönte Häupter waren die erhofften Massenaufstände ausgeblieben. Die "Propaganda der Tat" hatte sich als ein Fehlschlag erwiesen. Die Anschläge hatten die Massen nicht mit den Attentätern solidarisiert, wie die Anarchisten gehofft hatten, sondern die Täter isoliert. Selbst führende anarchistische Köpfe wie Kropotkin gestanden sich ein, dass gesellschaftliche Probleme nicht allein durch "einige Kilo Sprengstoff" zu lösen seien.

    Während die anarchistische Gewaltwelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts tendenziell abnahm, wurde das Konzept der "Propaganda der Tat" für Radikale vom anderen Extrem des politischen Spektrums übernommen. Dies galt vor allem für nationalistische Untergrundorganisationen, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gerade im europäischen Teil des Osmanischen Reiches wie Pilze aus dem Boden schossen.

    Bereits 1903 hatten die späteren Gründungsmitglieder der "Schwarzen Hand" den als pro-österreichisch geltenden serbischen König Aleksandar und seine Frau Draga ermordet. Nach der 1908 erfolgten Annexion der von Serbien beanspruchten Territorien Bosnien und Herzegowina durch die K.-u.-k.-Monarchie planten die "Schwarze Hand" und andere Geheimbünde wie "Junges Bosnien" zahlreiche Anschläge gegen prominente Vertreter der Habsburgermonarchie, inklusive den österreichischen Kaiser selbst.

    Nur wenige Wochen vor dem Besuch Erzherzog Franz Ferdinands in Sarajevo hatte ein nationalrevolutionärer bosnischer Student einen Attentatsversuch auf den österreichisch-ungarischen Stadthalter in Bosnien verübt, war aber gescheitert. Angesichts des dramatischen Anstiegs nationalistischer Gewaltaktionen kann man die laxen Sicherheitsvorkehrungen für den Besuch des Thronfolgers in Sarajevo bestenfalls als grob fahrlässig bezeichnen, zumal der Polizei Hinweise auf weitere Attentate vorlagen.

    Bereits Ende 1913, die Reisepläne Franz Ferdinands waren soeben publik geworden, hatte eine in den USA produzierte Zeitung für serbische Nationalisten zum Mord aufgerufen:

    "Der österreichische Thronfolger hat [...] seinen Besuch in Sarajevo angesagt [...] Serben, ergreift alles, was ihr könnt, Messer, Gewehre, Bomben und Dynamit. Nehmt heilige Rache! Tod der Habsburgerdynastie [...]"

    Als der Erzherzog in Sarajevo ankam, waren die Verschwörer durch die Zeitungen bestens über sein Tagesprogramm und die Reiseroute zum Rathaus der Stadt informiert. Die sieben Attentäter hatten sich in periodischen Abständen entlang der Route des aus sechs Fahrzeugen bestehenden Konvois des Thronfolgers stationiert. Ungeduldig warteten sie mit Granaten, Pistolen und Giftkapseln für den eigenen Freitod ausgestattet, auf die Ankunft des herannahenden Konvois inmitten der fahnenschwenkenden Massen am Appell-Kai des Miljacka-Flusses.

    Als sich der Konvoi langsam näherte, steigerte sich die Anspannung der Männer ins Unerträgliche - so sehr, dass der erste Attentäter, Muhamed Mehmedbašic, kalte Füße bekam und die Autokolonne ungehindert passieren ließ. Der zweite Attentäter, der bosnische Serbe Nedeljko Cabrinovic, zeigte mehr Entschlossenheit: Als der Konvoi an ihm vorbei fuhr, entsicherte er seine Granate und warf sie in Richtung des offenen Wagens, in dem Franz Ferdinand saß. Der Fahrer des Wagens erkannte jedoch das heranfliegende Objekt und trat geistesgegenwärtig aufs Gaspedal.

    Franz Ferdinand selbst gelang es, die Granate noch im Flug mit seinem Arm nach hinten abzulenken, sodass sie vor das dritte Fahrzeug fiel und dort explodierte. Bei der Detonation wurden zwei Insassen des Gefährts, Oberstleutnant Merizzi und Graf Boos-Waldeck, und etliche Zuschauer verletzt.

    Cabrinovic, von geschockten Passanten und Polizisten umringt, erkannte das Scheitern seines Attentatsversuchs und schluckte seine Giftkapsel, bevor er sich in den nahen Fluss warf. Der Versuch, sich das Leben zu nehmen, war allerdings genauso erfolglos wie das Bombenattentat: Das Gift war unzureichend dosiert und verbrannte ihm lediglich die Speiseröhre. Außerdem war der Fluss an der Stelle, an der Cabrinovic hineinsprang, nicht sonderlich tief, sodass er alsbald von wütenden Habsburg-Loyalisten wieder aus dem Wasser gezogen und beinahe gelyncht wurde, bevor die Polizei eingriff und den Attentäter verhaftete.

    Während die verletzten Begleitpersonen des Erzherzogs umgehend in ein Lazarett gebracht wurden, reagierte Franz Ferdinand überraschend gelassen. Er erkundigte sich nach dem Befinden der Verletzten und entschied, seine Fahrt zum Rathaus unverändert fortzusetzen. Es galt Haltung zu wahren und keine Furcht vor Meuchelmördern zu zeigen. Die Route führte noch an weiteren Attentätern vorbei, die aber so geschockt vom Scheitern ihres Mitverschwörers waren, dass sie untätig blieben und die Flucht ergriffen. Einzig Gavrilo Princip, der kurz nach der Explosion von seinem Standort herbeigeeilt war, um die Verhaftung Cabrinovics zu vereiteln, blieb am Tatort, auf eine zweite Chance hoffend. So kam der Konvoi unbehelligt am Rathaus an, wo der Erzherzog sein Pflichtprogramm absolvierte, auch wenn ihm die Reden der lokalen Honoratioren über die Verbundenheit Bosniens gegenüber der Habsburgermonarchie angesichts der Ereignisse des Morgens absurd erscheinen mussten.

    Nach Beendigung des Termins im Rathaus drängte das für die Sicherheit zuständige Personal den Thronfolger, die Stadt schnellstmöglich zu verlassen. Franz Ferdinand jedoch bestand darauf, vor seiner Abreise aus Sarajevo die Verletzten des Attentats vom Morgen im Krankenhaus zu besuchen, auch wenn dies bedeutete, dass er die Stadt erneut durchqueren musste. Er stimmte lediglich zu, dass man auf dem Weg zum Krankenhaus eine alternative Route wählen würde. Allerdings wurde vergessen, den Fahrern des Autokorsos die veränderte Streckenführung mitzuteilen, sodass sich der Konvoi wenige Minuten später auf derselben Straße wiederfand, auf der nur einige Stunden zuvor die Bombenattacke stattgefunden hatte. Als einer der Begleiter den Irrtum bemerkte und den Fahrer anwies, unverzüglich umzukehren, war es zu spät. Denn wie es der Zufall wollte, blieb der Wagen des Erzherzogs bei seinem Wendemanöver direkt vor den Füßen Gavrilo Princips stehen. Die Gunst der Stunde nutzend, zückte Princip seine Pistole und feuerte aus kurzer Entfernung zweimal auf die Insassen des Wagens. Dabei traf er Franz Ferdinand in den Hals und seine Frau Sophie in den Unterleib.

    Sofort nach den Schüssen schluckte er seine Zyankalikapsel, die aber wie im Fall Cabrinovic ihre Wirkung verfehlte. Als Princip erkannte, dass das Gift nicht wirkte, versuchte er sich mit seiner Waffe zu erschießen, was aber von der aufgebrachten Menge verhindert wurde, die mit Fäusten auf ihn einzuschlagen begann, bevor er von der Polizei verhaftet wurde. Unterdessen raste der Wagen mit dem schwer verletzten Thronfolgerpaar davon. Für beide kam alle Hilfe zu spät: Sophie verblutete noch während der Fahrt zur Residenz des bosnischen Landeschefs, wo kurze Zeit später auch Franz Ferdinand seinen Verletzungen erlag.

    Mehr noch als im Fall der weltweit im Fernsehen übertragenen Ermordung John F. Kennedys in Dallas ein halbes Jahrhundert später war im Sommer 1914 bereits den Zeitgenossen klar, dass hier ein epochemachendes historisches Ereignis stattgefunden hatte. Die Medienrevolution des ausgehenden 19. Jahrhunderts sorgte für eine unmittelbare Verbreitung der Neuigkeiten aus Sarajevo bis in die entlegensten Winkel der Welt. Verewigt in Klassikern der Weltliteratur wie Karl Kraus' "Letzten Tagen der Menschheit", waren die Tage nach dem Attentat durch Ungläubigkeit und Zukunftsangst geprägt. Das in nationalistischen Kreisen Österreichs besonders ausgeprägte Verlangen nach Rache an den Tätern und Hintermännern lässt sich indes nicht durch die Person des Opfers, dem als arrogant, nachtragend und unzugänglich geltenden Thronfolger, erklären.

    Karl Kraus, dem Erzherzog durchaus zugetan, schrieb in seinem Nachruf:

    "Nichts hatte er von jener ‚gewinnenden' Art, die ein Volk von Zuschauern über die Verluste beruhigt. Auf jene unerforschte Gegend, die der Wiener sein Herz nennt, hatte er es nicht abgesehen. Ein ungestümer Bote aus Altösterreich wollte er eine kranke Zeit wecken, daß sie nicht ihren Tod verschlafe. Nun verschläft sie den seinen."

    Tatsächlich war es nicht der tote Erzherzog, für den Wien in den Krieg ziehen wollte, sondern das, wofür Franz Ferdinand jenseits seiner individuellen Person stand: für die Zukunft der k. und k. Monarchie, einem Vielvölkerstaat, in dem verschiedene Nationalitäten auf Autonomierechten bestanden. Dennoch hätte das Attentat wohl kaum zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs geführt, wenn es nicht eine Reihe von bündnispolitischen Kettenreaktionen in Gang gesetzt hätte, die unter dem Sammelbegriff "Julikrise" in die Geschichte eingegangen sind.

    Dass der Anschlag nicht nur zu einem lokal begrenzten Krieg, schlimmstenfalls einem dritten Balkankrieg führte, lag nicht zuletzt an der harten Haltung der österreichisch-ungarischen Regierung gegenüber Serbien. Für die österreichischen Ermittler in Sarajevo war bereits nach wenigen Tagen klar, dass es sich bei den Anschlägen nicht um die Taten Einzelner gehandelt hatte. Dass drei der alsbald inhaftierten Attentäter aus Belgrad angereist waren und die Waffen aus serbischen Beständen stammten, verstärkte in Wien den Verdacht, dass die Regierung in Belgrad selbst hinter dem Attentat steckte.

    Auch wenn eine direkte Mitwirkung der serbischen Regierung nicht zu beweisen war, hatte Wien allen Grund davon auszugehen, dass Mitglieder der serbischen Funktionselite - insbesondere Offiziere der serbischen Armee - den Attentätern geholfen hatten. Das berechtigte Interesse der Doppelmonarchie, das Verbrechen aufzuklären und auch die Hintermänner vor Gericht zu stellen, wurde allerdings von denjenigen in Wien ausgebeutet, die schon lange auf eine bewaffnete Auseinandersetzung mit dem störrischen Nachbarland Serbien drängten.

    Insbesondere der österreichische Generalstabschef, Conrad von Hötzendorf, hatte seit Jahren unentwegt einen "Präventivkrieg" gefordert. Der Mord an Franz Ferdinand, der ironischerweise stets gegen einen Krieg mit Serbien argumentiert hatte, bot den Falken in Wien eine einmalige Gelegenheit, ihre Kriegsplanungen gegen Serbien in die Tat umzusetzen.

    Binnen weniger Tage hatten sie alle zentralen Entscheidungsträger der Doppelmonarchie davon überzeugt, dass das Attentat eine militärische Antwort erforderte. Da ein lokal begrenzter Militärschlag gegen Serbien jedoch die Gefahr einer Intervention Russlands, Belgrads engstem Verbündeten, heraufbeschwor, war allen Beteiligten in Wien klar, dass es vor einer Militäraktion der Rückendeckung des Deutschen Reiches bedurfte.

    In Berlin war man sich bewusst, dass ein Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien angesichts der Interessen und Bündnisse der europäischen Großmächte einen gesamteuropäischen Krieg riskierte, hoffte aber auf Abschreckung durch entschlossenes Auftreten. Im Falle des Falles allerdings, so formulierte es der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, von Jagow, Mitte Juli gegenüber dem deutschen Botschafter in London, werde man Wien den Rücken decken.

    "Je entschlossener sich Österreich zeigt, je energischer wir es stützen, um so eher wird Russland still bleiben. Einiges Gepolter in Petersburg wird zwar nicht ausbleiben, aber im Grunde ist Russland jetzt nicht schlagfertig, Frankreich und England werden jetzt auch den Krieg nicht wünschen. In einigen Jahren wird Russland nach aller kompetenten Annahme schlagfertig sein [...] Lässt sich die Lokalisierung nicht erreichen und greift Russland Österreich an [...] so können wir Österreich nicht opfern [...] Ich will keinen Präventivkrieg, aber wenn der Kampf sich bietet, dürfen wir nicht kneifen."

    Anders als die zivilen Entscheidungsträger fieberten führende Militärs eben dieser Situation entgegen, nicht zuletzt, weil sie auf einen kurzen und erfolgreichen Krieg hofften, bevor die bündnispolitisch vereinten Gegner Deutschlands - Russland im Osten und Frankreich im Westen - zu stark seien. Bereits 1909 hatten der deutsche Generalstabschef Helmuth von Moltke und sein österreichischer Kollege von Hötzendorf in einem Briefwechsel beschrieben, wie ein Angriff auf Serbien das zwangsläufige Eingreifen Russlands nach sich ziehen werde. Gerate das Zarenreich aber in einen Konflikt mit Österreich, so werde ein Zusammenprall zwischen Deutschland und Frankreich unvermeidlich, die jeweils an die Seite ihres Bündnispartners zu treten hätten. Wären den Politikern die Konsequenzen ihrer Handlungen bewusst geworden, hätten sie alles daran setzen müssen, die Lage in der Krisenregion zu entschärfen - so wie es wenige Monate zuvor während der beiden Balkankriege geschehen war, als sich die kleineren Staaten der Region um das europäische Erbe der Türkei gestritten und die Großmächte, vor allem Deutschland und England, eine Ausweitung des Konflikts verhindert hatten.

    In Anbetracht der vergleichsweise gut funktionierenden Krisendiplomatie der vorangehenden 30 Jahre musste der Mord am österreichisch-ungarischen Thronfolger also keineswegs zwangsläufig zu einer bewaffneten Eskalation führen. Die österreichisch-ungarische Regierung besaß eine Reihe von Möglichkeiten, Druck auf Serbien auszuüben und die Ermittler in Belgrad zu einer restlosen Aufklärung des Verbrechens zu zwingen. Doch diese Option blieb ungenutzt.

    In einem Brief an Wilhelm II vom 2. Juli 1914 warb Kaiser Franz Joseph vielmehr um Unterstützung für einen Schlag gegen Serbien:

    "Auch Du wirst nach dem jüngsten furchtbaren Geschehnisse in Bosnien die Überzeugung haben, dass an eine Versöhnung des Gegensatzes, welcher Serbien von uns trennt, nicht mehr zu denken ist, und dass die erhaltende Friedenspolitik aller europäischen Monarchen bedroht sein wird, solange dieser Herd von verbrecherischer Agitation in Belgrad ungestraft fortlebt."

    Nachdem Kaiser Wilhelm II, empört von "der Ermordung meines Freundes", in einem Zustand der Erregung seinen berühmten "Blankoscheck" ausgestellt hatte - die Versicherung gegenüber der österreichischen Führung, dass man sich auch im Falle eines Krieges auf die volle deutsche Rückendeckung verlassen könne - stellte Wien ein scharfes, auf 48 Stunden befristetes Ultimatum an die serbische Regierung. Dieses forderte unter anderem die von keinem Staat der Zeit zu akzeptierende Beteiligung österreichisch-ungarischer Ermittler in Serbien - also die Preisgabe der serbischen Souveränität.

    Als Belgrad wie erwartet dem Ultimatum nicht vollständig nachkam, erklärte Österreich-Ungarn Serbien am 28. Juli 1914 den Krieg, der sich binnen einer Woche zum Weltkrieg ausweitete, dem in den kommenden vier Jahren mehr als vierzig Millionen Menschen zum Opfer fielen. Keine der beteiligten Konfliktparteien hatte diesen Krieg vorausgesehen, ihn aber in der naiven Hoffnung auf einen schnellen Sieg und grenzenloser Unterschätzung der Folgen eines hoch technisierten Konflikts billigend in Kauf genommen. Am Ende bedeutete diese Fehleinschätzung aller Konfliktparteien neben Millionen von Toten, Verletzten und Flüchtlingen auch eine historisch einzigartige Neuordnung der europäischen Landkarte: Gleich drei jahrhundertealte multi-ethnische Reiche, die der Habsburger, der Romanows und der Osmanen, sollten den Krieg nicht überdauern. An ihre Stelle trat eine Vielzahl neuer Staaten in Mittelosteuropa und dem Nahen Osten, Staaten, die in ihrer Komposition nicht weniger multi-ethnisch waren als die Reiche, die sie ersetzen.

    Anders als die meisten Attentate, die ihr über den Tod des Opfers hinausgehendes Hauptziel nie erreichen, war die Tat vom Juni 1914 aus der Perspektive der Attentäter ein "Erfolg". Dies war auch der Grund, warum Princip nach dem Ersten Weltkrieg in Jugoslawien als Nationalheld galt, den am Ort der Tat eine Gedenktafel ehrte.

    Princip selbst sollte die eigentliche Hauptfolge seiner Tat - die Auflösung des Habsburgerreiches und die Geburt des jugoslawischen Staates - nicht mehr erleben. Unmittelbar nach dem Attentat verhaftet, musste er sich mit insgesamt 25 Mitverschwörern wegen Hochverrats und Mordes verantworten. Drei der Mitangeklagten wurden zum Tode durch den Strang verurteilt. Da Princip zum Zeitpunkt des Attentats noch minderjährig war, wurde er zu 20 Jahren schwerer Kerkerhaft verurteilt, verschärft durch einen monatlichen Fasttag. Die harten Bedingungen der Haft sollten nicht folgenlos bleiben: Princip starb am 28. April 1918 im Gefängnislazarett der Festung Theresienstadt an Tuberkulose.

    Für die Geschichte des Rechtsterrorismus bedeutete das Attentat von Sarajevo keine Zäsur. Die verheerenden Folgen des Anschlags in Form des Weltkriegs hielten irregeleitete Aktivisten der folgenden Jahre nicht davon ab, Princips Tat zu kopieren. Die spektakulären Attentate der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation (IMRO), die 1934 unter anderem den jugoslawischen König, Alexander I, erschoss, standen für eine Tradition der gezielten politischen Morde, die den Ersten Weltkrieg überdauerten. Nicht nur auf dem Balkan, sondern auch andernorts in Europa sollte es nach dem Ersten Weltkrieg weitere Attentate nationalistischer Gruppen geben, etwa die Morde an Walther Rathenau oder Matthias Erzberger durch die "Organisation Consul" in der Weimarer Republik, die Ermordung des irischen Revolutionsführers Michael Collins oder das erfolgreiche Attentat auf Talât Pascha, einem der Hauptverantwortlichen für den Genozid an den Armeniern, durch einen armenischen Nationalisten in Berlin 1921.

    Doch zumindest in einer wichtigen Hinsicht sollten sich diese Attentate von jenem in Sarajevo unterscheiden: Auch wenn die Mordaktionen selbst von "Erfolg" gekrönt waren, sollte es nie wieder ein individuelles Attentat geben, das vergleichbar weitreichende und aus der Perspektive der Attentäter positive Konsequenzen hatte. Von der Warte der Mörder aus betrachtet, war das Attentat vom 28. Juni 1914 vor allem eines: das erfolgreichste Attentat der Weltgeschichte.
    Denkmal für Zar Alexander II. in St. Petersburg
    Denkmal für Zar Alexander II. in St. Petersburg (picture alliance / dpa)
    Die Festnahme des Attentäters Gavrilo Princip (mit einem X gekennzeichnet), der den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie am 28. Juni 1914 in Sarajevo erschossen hat.
    Die Festnahme des Attentäters Gavrilo Princip (mit einem X gekennzeichnet). (picture alliance / dpa)
    Dieser Aufruf der Stadtverwaltung von Sarajevo nach der Ermordung des österreichischen Erzherzogpaares ist, zeitlich gesehen, das erste Dokument das in direkter Beziehung zum Ersten Weltkrieg steht. (undatiertes Archivbild)
    Dieser Aufruf der Stadtverwaltung von Sarajevo nach der Ermordung des Erzherzogpaares ist zeitlich gesehen das erste Dokument das in direkter Beziehung zum Ersten Weltkrieg steht. (picture alliance / dpa)