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Sascha Anderson: Sascha Anderson.

"Ich war ein Denunziator, das steht außer Frage". Mit diesen Worten präsentierte Sascha Anderson am 1. März in einem Berliner Café am Prenzlauer Berg sein neues Buch, eine Art Autobiographie. Erinnerungen eines Mannes, der sich ein Jahrzehnt lang nicht erinnern wollte, der bis vor kurzem hartnäckig bestritt, als zentrale Figur des literarischen DDR-Undergrounds am Prenzlauer Berg jahrelang der Staatssicherheit Informationen über die dortige Künstlerszene zugeliefert zu haben. An kaum einer Person lässt sich jenes Phänomen, das man "Stasi-Alzheimer" nennen könnte, also besser exemplifizieren als an Sascha Anderson. Ob seine zu Papier gebrachten Erinnerungen nun endlich von Offenheit zu sich selbst und gegenüber anderen, von jener Selbstreflexion geprägt sind, die der Schriftsteller bei der Buchpräsentation in Berlin immerhin anklingen ließ, sagt Ihnen Wolf Dietrich Fruck.

Wolf Dietrich Fruck | 25.03.2002
    Im Herbst 1991 wurde er einem großen Personenkreis bekannt, so, wie er es sich wohl oft vorgestellt, aber bis dahin nie erreicht hatte. Nicht seine literarischen Werke waren es aber, die ihm diese große Öffentlichkeit brachten, sondern ein Wort des gerade mit dem Büchner-Preis ausgezeichneten Wolf Biermann sollte fortan sein Leben bestimmen. Alexander "Sascha" Anderson, von Biermann in aller Öffentlichkeit als "Sascha Arschloch" tituliert, war bis zu diesem Zeitpunkt nur einem kleinen, eingeschworenen Kreis von Literaturinteressierten bekannt. Er galt als der Szeneguru vom Prenzlauer Berg, der es bis zu seiner Ausreise aus der DDR 1986 verstanden hatte, die vielfältigsten subversiv-künstlerischen Aktionen oppositioneller Künstler in der DDR zu organisieren. Seine Aktivitäten in der Literaturszene, als Sänger der Band "Fabrik", seine vielfältigen Beziehungen zu Malern, Musikern und Schriftstellern hatten ihm einen Nimbus in der Oppositionsbewegung der DDR eingebracht. Wie kein zweiter verstand er sich als Organisator, unermüdlicher Motor und spiritus rector der Szene. Nicht nur in der DDR galt Anderson als einer der interessantesten Vertreter der künstlerischen Opposition, sein Ruf hatte ihm auch in der damaligen Bundesrepublik vielfältige Kontakte verschafft. Da er bewusst im Gegensatz zur "Staatskunst" stand, sah mancher Kulturredakteur in ihm einen Vorzeige-Dissidenten, mit dem gerade in den 80er Jahren im Feuilleton der Bundesrepublik Staat zu machen war. Während der Staat DDR immer mehr in Agonie versank, schien Sascha Anderson das lebendige Element einer Kulturszene zu sein, die früher oder später Wegbereiter für eine Kunst jenseits des Sozialistischen Realismus sein konnte.

    Anderson, geboren 1953, hatte Schriftsetzer gelernt, ein Volontariat bei der DEFA begonnen, war wegen Scheckbetrugs verurteilt worden und hatte sich dann als Autor einen Freiraum für seine Aktivitäten schaffen können. Es genoss das Vertrauen vieler Künstler, ein Vertrauen, das er, wie sich herausstellte, missbrauchte, um regelmäßig das Ministerium für Staatssicherheit der DDR über die Aktivitäten der Szene zu informieren. Dabei schreckte er auch nicht davor zurück, bewusst ituationen zu schaffen, damit die Stasi die Möglichkeit hatte, Wohnungen und Ateliers oppositioneller Künstler zu durchsuchen. Nachdem Wolf Biermann ihn öffentlich des Verrats bezichtigt hatte, versuchte Anderson noch über Jahre hinweg, seine Spitzeltätigkeit zu leugnen, bis ihm 1999 an Hand rekonstruierter Akten diese eindeutig nachgewiesen werden konnte. Dies alles könnte man inzwischen ad acta legen - die Schuld ist bewiesen, das Beispiel Anderson zeigt die Verführbarkeit und das moralische Versagen in einer Diktatur.

    Dass der Name Anderson jetzt wieder in die Öffentlichkeit gerät, hängt mit dem Erscheinen seines Buches zusammen, dem er in immer noch selbstlosem Verkennen der eigenen Größe den Titel " Sascha Anderson" gegeben hat. Angekündigt als "keine Biografie im üblichen Sinne und kein Buch der Rechtfertigung" soll es von der falschen Haltung im richtigen Schreiben künden. Die Behauptung des Klappentextes "Der poetische Rang von Literatur erweist sich nicht an der Moral" soll dem Leser dabei wohl gleich die allgemeine Fehlbarkeit von Literaten suggerieren. Hatte nicht auch Brecht dauernd Weibergeschichten und herrschte Thomas Mann nicht wie ein Tyrann über die Familie? Es ist schon eine ziemliche Unverfrorenheit, dieses Buch mit dieser Interpretation auf den Buchmarkt zu bringen. Denn dass Anderson eine Darstellung seiner Geschichte gelungen wäre, die seinem moralischen Versagen eine ästhetisch überzeugende Form gibt, ist gewiss nicht der Fall. Wenn es denn wenigstens zu einem poetischen Rang reichen würde.

    Was man stattdessen auf gut 300 Seiten findet, ist eine Mischung aus realsozialistischen Zustandsbeschreibungen, eine Anhäufung von Novalis-Zitaten und darüber hinaus abstruse Satzkombinationen, die wohl den besonderen Intellekt des Autors demonstrieren sollen. Anderson, der Dichter, durchdrungen von seiner poetischen Sendung, lässt das Volk teilhaben an seiner Zerrissenheit, seinem dornigen Lebensweg, seinem Drang nach Höherem. Seht, welch ein Talent habt ihr verkümmern lassen. Man möchte manchmal herzlich lachen bei all dem Wortgeklingel, aber irgendwie bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Eigentlich wäre das Buch höchstens unter "Was es sonst noch gibt" mit einer Randbemerkung abzuhandeln, wäre da nicht der Rummel, der darum veranstaltet wurde. Viele Zeitungen behandelten es schon am Ersterscheinungstag so ausführlich auf ihren Kulturseiten, als wäre es gleichwertig mit dem neuesten Werk eines Nobelpreisträgers. Andersons Ego wurde sicherlich zutiefst befriedigt - so viel Aufmerksamkeit hatte er seit seinen Stasi-Tagen nicht mehr, aber jetzt hängen keine Führungsoffiziere an seinen Lippen, sondern fast das gesamte deutsche Feuilleton. Auch Marianne Birthler, die Chefin der Stasi-Unterklagenbehörde, schüttelte über Anderson Pressepräsenz nur den Kopf. Leider habe die "Faszination des Bösen" in dieser Gesellschaft so ein großes Gewicht, meinte sie. Ein schillernder Täter sei eben prädestiniert zum Medienhelden, während die Opfer stets Nebensache blieben. Andersons Buch und die Reaktionen darauf sind dafür ein Paradebeispiel.

    Dabei wäre es sicher spannend gewesen, etwas über seine Motivationen zu erfahren, über die konkreten Umstände, über die Schizophrenie der doppelten Existenz. Aber: Fehlanzeige. Zwar deutet sich mitunter etwas von dem an, was ihn zu dem gemacht hat, was er war und ist. Da ist die Reflexion der komplizierten Kindheit, seine persönlichen Beziehungen zu den Vertretern von KGB und Stasi, die Selbstüberschätzung des Intellektuellen, der meint, nicht er diene dem System, sondern das System werde von ihm benutzt. Im übrigen eines der Lieblingsargumente enttarnter IMs, die erklären, nur über die allgewaltige Stasi wäre es möglich gewesen, die Bedingungen in der DDR zu ändern. Dass aber dieses Argument spätestens dann hinfällig wird, wenn es um eindeutige Denunziationen geht, sollte auch den minder Intellektuellen inzwischen klar sein. Anderson aber will eben nicht als normaler IM gelten, und so flüchtet er sich unter die Tarnkappe seiner Wortkaskaden.

    Er, der von sich sagt: "Anders, als ich hieß, wollte ich heißen" oder "Ich fliehe vor dem, was ich weiß, in das, was ich nicht wissen will" versucht mit diesen Phrasen von einem abzulenken: Er war ein Spitzel. Aber dies würde sich Anderson nie eingestehen. Stattdessen möchte der Dichter Anderson am Ende lieber ein Philosoph sein, der bedeutungsschwere Sätze hinwirft wie: "Die Sprache des Sprechens endet an der Oberfläche des Angesprochenen!" Und der über den Satz "Vielleicht war ich bedeutend und bedeutungslos" zu der Bilanz gelangt: "Vielleicht war alles nur eine bedeutungslose Ferne wie ein bedeutungsloses Nichts." Zu einer echten Hochform läuft er aber am Ende des Buches auf: "Die Basis aller ewigen Verbindungen ist eine absolute Tendenz nach allen Richtungen." Den Satz muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Sicherlich dachte Anderson schon jetzt an die Legionen von Germanisten, die sich in späteren Zeiten mit seinem Werk beschäftigen werden, und damit auch manche Doktorarbeit ein ihr gemäßes Thema findet, hinterlässt er auf fast jeder zweiten Seite seine kryptischen Sentenzen.

    Aber da helfen keine Nebelkerzen in Form spätexpressionistischer Worthülsen, denn immer, wenn es ernst wird, ernster werden müsste, bricht der Dichter lieber ab - in diese Niederungen will er nicht steigen -, hier müsste er Farbe bekennen, und da würde alles so banal und leider auch real. Dort, wo es um das gehen sollte, was er wirklich getan, was er preisgegeben und wem er wie geschadet hat, da steht: nichts. Sascha Anderson ist und bleibt ein von sich überzeugter Mensch, der sich auch von keinem Verriss beeindrucken lassen wird. Denn man hat über ihn gesprochen, und darum geht es ihm. Bezeichnenderweise endet sein Buch mit folgender Passage:



    Es gibt keinen selbstgewissen Grund dafür, dass ich seit 1996 wieder im Prenzlauer Berg lebe. Ich denke, es ist der Versuch, mich der möglichen Reaktion auf eine Geschichte auszusetzen, Die Ich Mir Selbst Erzähle.

    Die letzten Worte schreibt Anderson alle am Anfang groß - denn so sieht er sich -, er allein erzählt die Geschichte. Sich selbst und allen anderen. Das meist gebrauchte Wort des Buches ist das Wort ICH - über 1.700 mal kommt es auf den knapp 300 Seiten vor. Und dies ist auch der Schlüssel zum Buch und zur Person. Es bleibt nur das große ICH.

    Wolf Dietrich Fruck über: Sascha Anderson: Sascha Anderson. DuMont Verlag Literatur und Kunst, 304 Seiten zum Preis von Euro 19,90. Soviel für heute in unserer Sendung "Politische Literatur".