Donnerstag, 25. April 2024

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Saskia Vogel: "Permission"
Sexualität abseits von Klischees

Sexuelle Autonomie des Einzelnen hängt vor allem von der Überwindung hierarchischer Strukturen ab, zeigt Saskia Vogels Debütroman. Ausgerechnet die BDSM-Szene von Los Angeles dient als Sinnbild für eine Erotik, die auf Respekt und Einverständnis beruht und die traditionelle Hierarchien überwindet.

Von Veronika Schuchter | 19.02.2020
Glaubt man dem Feuilleton, so ist das Buch der Stunde über weibliches Begehren Lisa Taddeos "Drei Frauen". Taddeo will die Sexualität der US-amerikanischen Frau ergründen. Sie porträtiert im Stil einer literarischen Reportage drei Frauen, die sich nur auf den ersten Blick zu unterscheiden scheinen. Ihre sexuellen Biografien aber ähneln sich erschreckend. Passiv, unbefriedigt, benutzt oder sogar missbraucht sind sie. Taddeo zeichnet so ein trübes Bild von weiblichem Begehren, das sich in der Befriedigung männlicher Bedürfnisse erschöpft.
Ein ganz anderes, wesentlich positiveres Bild zeigt Saskia Vogel in ihrem Debütroman "Permission". Wie auch in ihrer Arbeit jenseits der Literatur – Vogel war unter anderem Mitveranstalterin eines Erotikfilmfestivals in Finnland – versucht sie ein nuancenreiches Bild verschiedener Ausdrucksformen von Sexualität zeichnen:
Orly sagte, ihre Aufgabe sei es zu helfen, die Kluft zwischen den Geschlechtern zu heilen. Es gehe nicht darum, die Verhältnisse umzukehren. Das Matriarchat wäre nicht die Lösung unserer Probleme. Wir müssten den Wert des Weiblichen und des Männlichen anerkennen, diese Dichotomie dann überwinden und darüber nachdenken, was uns eint.
Modell stehen in Los Angeles
Die Handlung klingt zunächst etwas klischeehaft, aber das scheint beabsichtigt. Die Autorin entwirft eine Szenerie und Figuren, die jeder kennt, um dann schrittweise Alternativen zu entwickeln. Der Schauplatz ist Los Angeles und die Hauptfigur ist, wie könnte es anders sein, eine junge, aber erfolglose Schauspielerin. Sie heißt Echo, ist Mitte Zwanzig und kann ihre Sprechrollen an einer Hand abzählen. In Ermangelung von Filmangeboten beschränkt sich ihr beruflicher Körpereinsatz auf das Aktmodellstehen für Hobby-Bildhauer. Nach dem Tod des Vaters, der bei einer gemeinsamen Wanderung an der Küste verunglückt, stürzt sie die Trauer in eine Krise. Das Verhältnis zur deutschen Mutter, die allein im Haus auf den Klippen in einem Vorort von L.A. zurückbleibt, ist belastet:
"Als ich eine präpubertäre Teenagerin war, war aus ihr eine Person geworden, die sich über Oberflächlichkeiten aufregte: über die Küchenarbeitsplatte, über die Sauberkeit von Teppichen, über mich. Immerzu strich sie ein störrisches Haar an meiner Schläfe glatt oder sie zupfte am Rocksaum meiner Schuluniform."
Domina bricht Beziehungsmuster
Die ins Nachbarhaus einziehende Orly und ihr Mitbewohner Piggy passen so gar nicht in die spießbürgerliche, wohlhabende Siedlung am Rande L.A.s. Die attraktive und selbstbewusste Orly ist Mitte Dreißig und arbeitet als Domina. Der wesentlich ältere Piggy war ursprünglich Orlys Kunde. Nachdem seine Ehe an seinen im Geheimen ausgelebten masochistischen Unterwerfungsfantasien zerbrochen ist, wird er Orlys Mitbewohner. Als die Schauspielerin Echo sich in Orly verliebt und diese bei ihren Jobs als Domina begleitet, später auch selbst Hand bei den Kunden anlegt, fühlt Piggy sich und seine Vereinbarung mit Orly zunächst bedroht. Schon bald stellt sich aber heraus, dass herkömmliche Beziehungsmuster, und damit auch Ängste und Eifersucht, hier ohnehin nicht greifen.
In Rückblicken wird nun Echos sexuelle Biografie erzählt, die mit ihrer Schulfreundin Ana beginnt:
"Ana und ich. Nur wir beide, im Sommer vor der zwölften Klasse. Die Nachmittagssonne spielte in ihren Vorhängen, hastige Hände, zu ungeduldig uns auszuziehen. Erst gab es nur das Quietschen und Rascheln des Bettes, dann Hände und Haut, den Akt des Küssens und die Geräusche, ihre Hand in meinem Haar und meine ihn ihr. Wir hatten nicht bemerkt, dass ihre Tür nur angelehnt war, bis sie ins Schloss fiel. Sie dachte, es sei nur der Wind. Dann hörten wir das rollende Klicken des Schlosses. Ana versteinerte. Ich sagte, wir sollten durchs Fenster verschwinden. Als sie mir nicht folgte, als ich sie ihn dann anflehen hörte, begann ich zu laufen. Ich hätte nicht ohne sie abhauen sollen, aber ich rannte die paar Meilen nach Hause."
Begehren jenseits eingefahrender Muster
Als die beiden Mädchen von Anas konservativem iranischen Vater Dr. Moradi, erwischt werden und auch ihre eigene Mutter sie nicht unterstützt, lernt Echo schnell, welche Sanktionen es mit sich bringt, sich nicht an das Drehbuch gesellschaftlicher Normalität zu halten. Sie und Ana werden getrennt, werden einander nicht wiedersehen. Moradi hingegen begegnet Echo später wieder. Nun ist sie nackt seinem Blick ausgesetzt, sie als Model, er als Hobby-Bildhauer. Moradi erscheint als personifizierte scheinheilige Sexualmoral. Dass es ihm nicht gelingen wird, Echos nacktes Abbild so zu formen, wie er sich das vorstellt, hat viel damit zu tun, dass Echo gerade dabei ist, sich von gesellschaftlichen Zwängen, symbolisiert im männlichen Blick, zu befreien. Die Domina Orly ist ihr zum Vorbild eines alternativen Begehrens geworden, das sich nicht über das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung definiert:
"Die Welt entlang den Linien anatomischer Unterschiede aufzuteilen, ist doch sehr fragwürdig. Als ob die Geschichten, die die Wissenschaft über unsere Körper erzählt, nicht auch Gegenstand von Veränderungen wären. In diesem Punkt irrte Casanova: Die Natur ist weder gerecht noch ungerecht. Sie ist stumpf und gleichgültig, aber sie wird uns durchbringen, wenn wir sie nur machen lassen, sie wird uns so gut sie kann beistehen, auch im schroffsten Klima."
Buchcover: Saskia Vogel: „Permission“
Buchcover: Saskia Vogel: „Permission“ (Buchcover: Secession Verlag, Hintergrund: Martin Adams/Unsplash)
Grenzen geben Freiheit
Dass Echo und Orly ein Liebespaar werden, ist für diesen Roman weniger entscheidend als die sich darin offenbarende Befreiung. "Permission" ist die Geschichte einer emotionalen und körperlichen Emanzipation. Das Konstrukt, das Vogel dafür wählt, ist brillant: Die Dienste, die Orlys Kunden in Anspruch nehmen, werden vorher detailliert geplant: Es gibt einen fixierten Ablauf, es werden Rollen verteilt, Vorlieben geklärt und Grenzen gesetzt. Ausgerechnet die geskripteten, auf strengen Absprachen beruhenden SM-Akte werden den nicht weniger normierten, gesellschaftlich einstudierten heteronormativen Balz- und Sexualritualen gegenübergestellt. Beides engt zwar die Möglichkeiten ein, gewährt aber auch Sicherheit. So empfindet auch Echo das Korsett an bekannten Regeln und Vorgaben, das der Umgang mit Männern ihr gibt, zunächst als angenehm entlastend:
"Mit Männern hatte ich leichtes Spiel. Natürlich war es auch mehr als das, aber ich mochte die Bequemlichkeiten, die eine Frau genießt, wenn sie mit einem Mann ausgeht. Darin war ich gut erprobt. Frauen hingegen verpassten mir Lampenfieber. Bei Frauen gab es einen offenen Raum für Möglichkeiten, ein Potenzial, die Beziehung nach unseren eigenen Bedingungen zu definieren, was jedoch hieß, dass ich nun für mich selbst einstehen musste."
Poesie statt Sex-Klischees
Beim Schreiben von Sexszenen kann man wenig richtig und sehr viel falsch machen, das zeigt die Literaturgeschichte. Nicht umsonst gibt es den Bad Sex in Fiction Award, der unter anderem Hochkarätern wie Jonathan Littell und Norman Mailer verliehen wurde. Dass Saskia Vogel mit einem Roman über die BDSM-Szene L.A.s, über junge Schauspielerinnen und schmierige Hollywoodagenten, nie auch nur im Ansatz Gefahr läuft, für diesen unschmeichelhaften Award nominiert zu werden, ist ein Talentbeweis für sich. Vielmehr macht sie sich klischeehaft schlechte Sexbeschreibungen stilistisch zunutze, um die Schalheit und Austauschbarkeit bedeutungsloser Akte zu beschreiben, die aus den immergleichen Gesten, Abläufen und Dialogen bestehen. Ein Abend mit Van, Echos potenziellem Agenten, bietet alles, was man sich darunter vorstellt, vom Restaurantbesuch, bei dem die hungrige Echo sich überlegt, wieviel sie am Teller lassen muss, um diszipliniert zu erscheinen, bis hin zum Sex auf der Besetzungscouch. Für Echos Begegnung mit Orly findet Saskia Vogel hingegen eine Sprache, die in ihrer poetischen Qualität die neu gefundene Freiheit, das Ablegen des normierenden Korsetts symbolisiert:
"Ich suchte meinen Körper ab, meine Hände spielten im Licht und in den Wellen. Am Horizont die Sonne, Sterne gingen auf. Da war eine Bewegung in mir. Wie Gezeiten. Ich tauchte meine Hände ein in mich und hob sie an in Hingabe. Trink von mir, süß und salzig. Ihre Lippen öffneten sich an meiner Hand. Wie ihre Kehle sich bewegte. Sie trank und trank und sie trank mehr als Wasser. Sie verschlang mein Herz."

Brutal ist die Gesellschaft
Die Figur Orlys selbst, auch ihre Herkunft, auch alles, was sie antreibt, wie sie begehrt, bleibt im Hintergrund. Sie ist die Projektionsfläche für Echo und Piggy, sie ermöglicht ihnen, sich selbst zu sehen und die eigenen Bedürfnisse abseits gesellschaftlicher Normen zu entwickeln, die sich über Jahre in den Körper eingeschrieben haben. Der Roman macht deutlich, wie der eigene Körper als Teil eines Gesellschaftskörpers erscheint, der ein knapp bemessenes Repertoire an sexuell erwünschten Verhaltensweisen bereitstellt. Nicht die mit Ressentiments und Klischees beladene BDSM-Szene erscheint hier als pervers und brutal. Es sind die gesellschaftlichen Zurichtungen, wie sie im Roman von Anas Vater Moradi und dem Hollywood-Agenten Van personifiziert werden, die dem Individuum Gewalt antun. BDSM hingegen beruht hier auf Vertrauen und aktivem Einverständnis zu allem, was passiert.
"Permission" ist ein ungewöhnlicher, stilistisch zurückhaltender Roman über Trauer, Macht und sexuelle Emanzipation, der ohne große Gesten auskommt, und trotzdem sehr berührt. Vogel interessieren die feinen Nuancen. So erzeugt die #metoo-Szene mit Van großes Unbehagen, ohne dass körperliche Gewalt im Spiel ist. Echo willigt ein, doch frei ist sie dabei nicht. Sexuelle Autonomie, das zeigt Vogels Roman subtil, hängt eben nicht nur von der Emanzipation des Einzelnen ab, sondern von der Überwindung hierarchischer Strukturen. Für diese Freiheit hat Saskia Vogel eine beeindruckende Sprache gefunden.
Saskia Vogel: "Permission"
Aus dem Englischen von Benjamin Dittmann
Dialogue Books /Secession Verlag, Berlin. 256 Seiten, 22 Euro.
Das Buch wird vorraussichtilch nach der Buchmesse in Leipzig auf Deutsch im Secession Verlag erscheinen.