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Scarlatti Sonaten
Musikalische Intelligenz und pianistische Souveränität

Die drei Scarlatti-Sonaten, die der französische Pianist Lucas Debargue für sein CD-Debut 2016 aufgenommen hat, zeigten sein hervorragendes Gespür für diese Barock-Miniaturen und ließen hoffen auf mehr. Jetzt hat Debargue 52 der 555 Scarlatti-Sonaten aufgenommen, eine nicht zufällig gewählte Zahl.

Von Michael Stegemann | 06.11.2019
    Der Pianist Lucas Debargue
    Der Pianist Lucas Debargue (Yann Orhan / Sony Classical)
    Musik: Domenico Scarlatti, Sonate E-Dur, K 206
    Als der 1990 in Paris geborene, bis dahin gänzlich unbekannte Lucas Debargue 2015 beim renommierten Tschaikowsky-Wettbewerb den »Preis der Vereinigung der Moskauer Musikkritiker« erhielt, machte schnell die ungewöhnliche Karriere des Pianisten die Runde. Selbst der »Spiegel« berichtete über den Quer-Denker und –Spieler, der sein Klavierstudium mit 15 aufgegeben hatte, um E-Bass in einer Rockband zu spielen und Literaturwissenschaft zu studieren. Erst mit 20 kehrte Debargue an die Tasten zurück, verdiente sich als Bar-Pianist und Ballett-Korrepetitor seinen Lebensunterhalt und wurde schließlich durch seine Lehrer Jean-François Heisser und vor allem Rena Schereschewskaja bis zum Abschluss-Diplom und zur Wettbewerbs-Reife begleitet. Dabei ist Debargues Klavierspiel alles andere als exzentrisch: Extrem differenziert und farbig, in bester französischer Jeu-perlé-Tradition – nach der die Töne aneinandergereiht werden wie Perlen auf einer Schnur – und von einer wunderbaren Gelassenheit – wie in der Sonate h-Moll K 27.
    Musik: Domenico Scarlatti, Sonate h-Moll K 27
    Dass es gerade 52 Sonaten sind, ist kein Zufall. Es sind genau "so viel wie das Jahr Wochen und ein Kartenspiel Karten hat, schließlich war Domenico ein unverbesserlicher Spieler", schreibt Nicolas Witkowski im Booklet: "Scarlattis Vier Jahreszeiten". Dabei habe er die Sonaten "nach Gefühl gruppiert", erklärt Lucas Debargue selbst:
    "… teils willkürlich, teils um Ähnlichkeiten oder auch Kontraste zu unterstreichen, aber stets unter Beachtung der Tonarten und Tempowechsel. Die Anordnung der Sonaten auf den vier CDs folgt einer harmonischen Progression, die möglichst sanft und natürlich sein sollte."
    Anklänge an Clara Haskil und Marcelle Meyer
    Anders als zum Beispiel Ivo Pogorelich oder Michail Pletnev, bei denen Scarlatti gelegentlich wie ein Chopin oder Rachmaninow avant la lettre klingt, ist Debargues Spiel von großer Zurückhaltung, fast intim. Auch der Vergleich mit dem "letzten Romantiker" Vladimir Horowitz würde nicht passen, bei dem Scarlattis Sonaten – bei aller Meisterschaft – immer ein bisschen wie pianistische Kabinett-Stücke daherzukommen scheinen. Am ehesten erinnert Lucas Debargue an die beiden großen Scarlatti-Pianistinnen der 1950er Jahre, Clara Haskil und Marcelle Meyer.
    Musik: Domenico Scarlatti, Sonate D-Dur K 492
    Lucas Debargues Referenz – er selbst sagt: "das uneingeschränkte Vorbild" – war die legendäre einzige, 1984/85 entstandene Gesamtaufnahme der 555 Sonaten durch den Cembalisten Scott Ross; viele seiner interpretatorischen Entscheidungen hat Debargue übernommen – wobei zehn der 52 Sonaten bislang noch nie auf Klavier eingespielt wurden. Die (technisch und akustisch bestechend schöne) Aufnahme entstand im September 2018 in nur fünf Tagen in der Berliner Jesus-Christus-Kirche, auf einem Bösendorfer-Flügel.
    Extrem wenig Pedal
    "Für mich ist es eine neue Art zu zeigen, dass mich das Instrument 'Klavier' als solches überhaupt nicht interessiert. […] Ich habe fast vollständig auf den Pedalgebrauch verzichtet, die Effekte erzeuge ich nur mit den Fingern, direkt auf der Tastatur. […] Manchmal – aber keinesfalls systematisch – setze ich einen Echo-Effekt ein, wie ihn die Cembalisten und Organisten durch einen Manual- oder Registerwechsel erreichen."
    Das zeigt zum Beispiel die c-Moll-Sonate K 526 mit ihren vertrackten Verzierungen und ihrer Polyphonie, die Lucas Debargue ohne jedes Forcieren gelingen.
    Musik: Domenico Scarlatti, Sonate c-Moll K 526
    Die 52 Sonaten auf vier CDs laden zu einer musikalischen Entdeckungsreise ein, deren Dramaturgie den Farb-, Licht- und Stimmungswechseln der vier Jahreszeiten zu folgen scheint. Es ist Debargues vierte Produktion für Sony, und sie zeigt, dass die Aura des Exzentrikers, die seine Anfänge vor drei, vier Jahren umgab, längst nicht mehr vonnöten ist, um auf ihn hinzuweisen. Der 29-jährige Franzose ist ein bemerkenswerter Interpret, bei dem musikalische Intelligenz und pianistische Souveränität auf das Schönste zusammen gehen.
    Domenico Scarlatti - 52 Sonaten
    Lucas Debargue, Klavier
    Sony Classical