Freitag, 19. April 2024

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Schabowski: Schießbefehl war ein Tabuthema

Das ehemalige SED-Politbüromitglied Günther Schabowski hat die Debatte um das kürzlich veröffentlichte Dokument zum Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze als formalen Streit bezeichnet. Entscheidend sei nicht die Existenz eines solchen Papiers, sondern die Tatsache, dass an der Grenze Menschen erschossen worden seien, sagte Schabowski. Davon hätten auch die Mitglieder des Politbüros gewusst. Dort sei der Schießbefehl jedoch ein Tabuthema gewesen.

Moderation: Friedbert Meurer | 14.08.2007
    Friedbert Meurer: Ein Dokument aus einem Archiv in Magdeburg hat ein düsteres Kapitel deutscher Geschichte wieder ausgeleuchtet: die Toten an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer. Jedenfalls ist die Diskussion voll im Gange, auch wenn dieses Dokument wie sich herausgestellt hat schon vor zehn Jahren einmal publiziert worden ist. Die Arbeitsgemeinschaft 13. August zählt insgesamt 590 Tote an Mauer und Stacheldraht zwischen 1961 und 1989. Es gibt viele Zahlen, die kursieren. Eine andere der zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter zählt 274. Das alles Zahlen und Statistiken. Hinter jedem Fall aber verbirgt sich ein tragisches Schicksal. Die Verantwortlichen dafür wurden Mitte der 90er Jahre verurteilt, unter anderem Egon Krenz als Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates, der sich aber für unschuldig hielt.

    O-Ton Krenz: Ich bin nicht für Tote an der Grenze verantwortlich und hier aus diesem Gerichtssaal werden die historischen Fragen verbannt. Auf diese Art und Weise will man schlicht und einfach meine politische Tätigkeit in der DDR kriminalisieren.

    Meurer: Auch heute sagt Egon Krenz, es hat keinen Tötungsbefehl gegeben. - Mitglied im SED-Politbüro war auch Günther Schabowski. Er ist 1997 zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Später dann aber wurde er begnadigt. Anders als Egon Krenz hat er die Angehörigen um Verzeihung gebeten. Bei uns ist er am Telefon. Guten Morgen Herr Schabowski!

    Günther Schabowski: Guten Morgen.

    Meurer: Sie haben gestern Abend auf der Glienicker Brücke an einer Lichterkette teilgenommen, organisiert vom Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses. Was ist Ihnen denn da gestern Abend bei der Gedenkveranstaltung zum 13. August durch den Kopf gegangen?

    Schabowski: Es ist mir nicht erst an diesem Abend durch den Kopf gegangen. Sonst hätte ich gar nicht auf die Einladung, dort hinzukommen, reagiert. Die entspringt natürlich von Seiten der Einlader der Überlegung, dass jemand aus der Spitze des SED-Regimes seit Jahren eine eindeutige Haltung bezieht zur Mauer und zu dem, was sich dort zugetragen hat, also zu den Opfern, die diese Mauer gefordert hat von unschuldigen Menschen.

    Meurer: Haben Sie an Ihre eigene Schuld gedacht?

    Schabowski: Selbstverständlich spielt das eine Rolle. Sonst könnte man doch gar nicht dort hingehen. Ich habe ja eine ganz eindeutige Stellung dazu bezogen. Also das ist überhaupt keine Frage für mich.

    Meurer: Worin sehen Sie anders als das ja Egon Krenz wie gehört tut Ihren Beitrag und Ihre Schuld?

    Schabowski: Wenn ein Regime, das sich sozusagen einer Weltverbesserungsideologie verpflichtet sieht, im Grunde nur existieren kann, indem es seine Bürger letztlich einmauert, und nicht nur das, sondern dass Bürger, die nicht mit diesem System einverstanden sind und sich ansonsten überhaupt nichts zu Schulden haben kommen lassen, also in keiner Weise kriminelle Handlungen begangen haben, dieses Land verlassen wollen, was in jedem offenen Land, in jeder Demokratie möglich ist, und sie riskieren dabei abgeknallt zu werden, dann finde ich - und das habe ich auch während des Prozesses zum Ausdruck gebracht - hat dieses Regime, dieses System sein Recht verwirkt, in dieser Weise sich als Retter der Menschheit darzustellen und Leute unter seine Fuchtel zu zwingen. Also das ist eine ganz eindeutige Sache und insofern hat für mich auch sagen wir mal die Spiegelfechterei um Schießbefehl und so weiter letztlich keine Rolle mehr gespielt. Ich habe mir gesagt, ob es einen Schießbefehl in dieser oder jener Form gegeben hat, das spielte ja eine Rolle in dem Prozess, dass es eine so genannte Grenzregelung gegeben hat, in der letztlich den Polizisten oder den Grenzern es auferlegt war, auf Flüchtlinge nach Anruf, also durch Warnrufe und schließlich, wenn sie nicht aufzuhalten sind, durch Schüsse in die Beine daran zu hindern. Darum ging der Streit und ich habe dann meinen Anwälten gesagt mir reicht's und in Konfrontation mit den Angehörigen der jungen Menschen, die dort an der Grenze ihr Leben lassen mussten, das ist für mich jetzt überhaupt nicht mehr die Frage, darüber zu rechten und zu kungeln, sondern wenn ich in einem Regime bin, das so etwas fordert oder zulässt oder letztlich verursacht, dann gibt es dafür keine Entschuldigung mehr.

    Meurer: Dieses Dokument jetzt, Herr Schabowski, galt für ein Stasi-Sonderkommando und sah eben für die Grenzsoldaten oder für die Stasi-Beamten keinen Warnruf vor. War Ihnen dieses Dokument bekannt?

    Schabowski: Nein, das war nicht bekannt, hat auch in dem Prozess überhaupt keine Rolle gespielt. Ich staune darüber und ich verstehe auch nicht, wie jetzt der Frau Birthler daraus irgendwelche Vorwürfe gemacht werden. Wenn, dann hätte ja der Justizapparat, der seinerzeit mit dem Prozess betraut war, alles mögliche anstellen müssen, um einen solchen eindeutigen Beleg herauszufinden und ihn geltend zu machen. Also mir ist nicht in Erinnerung, dass das eine Rolle gespielt hat. Heute ist ja auch die Rede davon, dass das eine ganz spezifische Einheit und Verantwortung betrifft. Vielleicht ist das bei dem Prozess aus diesen Gründen nicht zur Sprache gekommen, soweit ich mich erinnere, aber das ist unerheblich, denn wenn solch eine Weisung oder ein Befehl existiert hat in einer Einheit der Stasi - die Stasi ist eine Institution der Partei gewesen; die hat ja nicht von sich aus so reagiert -, dann hätte das durchaus Gegenstand sein können. dass das heute von der Birthler-Behörde aufgedeckt wurde oder nicht aufgedeckt wurde, aber zumindest wieder in Erinnerung gerufen wurde, halte ich für eine ganz wichtige Geschichte. Außerdem ist das Entscheidende für mich dabei, dass die Debatte über die Aufarbeitung der DDR-Geschichte und die Defizite, die dabei noch immer existieren, wieder neue Impulse erhält und das keine abgelegte Geschichte ist, sondern eine Geschichte ist, die bis in unsere Tage hineinragt. Es handelt sich um die Auseinandersetzung mit einer Partei, in der diese Auseinandersetzung sehr notwendig ist.

    Meurer: Die Spitzen der DDR haben ja damals bestritten, von dem Schießbefehl gewusst zu haben. Dabei gab es Schusswaffenbestimmungen und vieles andere mehr. Erinnern Sie sich daran, dass im Politbüro oder im ZK mal darüber geredet wurde?

    Schabowski: Im Politbüro ist niemals über einen Schießbefehl gesprochen worden, zumindest in der Zeit, in der ich dort Mitglied war, also Mitte der 80er Jahre. Das ist auch gar nicht finde ich letztlich entscheidend. Natürlich spielt nicht in jeder Regierung eine Rolle, welche Entscheidung auf der Grundlage von Grundsatzüberlegungen militärische Einheiten machen. Das hat keine Rolle gespielt.

    Meurer: Aber es hat schon jeder gewusst, was an der Grenze los ist?

    Schabowski: Es gab auch keine Beschlüsse im Politbüro. Darum ging ja die [unverständlich] zum Teil. Deswegen mein Schluss: was soll's! Entscheidend ist, dass unter der Fahne des Sozialismus so etwas an der Grenze passiert ist, was ausreichend ist, um den Sozialismus endgültig als Weltverbesserungsanspruch zu diskreditieren.

    Meurer: Wieso war das ein Tabuthema im Politbüro?

    Schabowski: Es war möglicherweise ein Tabuthema, weil das direkt an die Verantwortung und an die Schuld fortwährend erinnert hätte, und dazu hat man dann bestimmte so genannte Organe, die sich darum zu kümmern haben, und es ist nicht Sache der Parteiführung. Das einzige was dort im Politbüro immer mal wieder vor kam waren Umläufer, also keine Beschlussdokumente oder so, aber in denen informiert wurde, dass Grenzdurchbrüche verhindert worden sind. Aber auch darin war nicht die Rede davon, dass es dabei Todesopfer gegeben hat.

    Meurer: Im April 1989, Herr Schabowski, hat Erich Honecker unter dem internationalen Druck damals den Schießbefehl aufgehoben. Können Sie sich vorstellen oder können Sie sich erinnern, wie das damals geschehen ist? Hat er das mündlich gesagt, schriftlich getan?

    Schabowski: Ich kann mich nicht erinnern, dass er einen Schießbefehl aufgehoben hat, und das hat auch keine Rolle im Politbüro gespielt, muss ich ehrlich sagen, so weit ich in Erinnerung habe. Der Schießbefehl war ja immer eine Sache, die nicht akzeptiert wurde, also von uns, vom Politbüro zu der Zeit. Das war auch eine bösartige Unterstellung des Westens. Es gab ja Regelungen - ich habe das schon angedeutet -, die sagten wenn Grenzdurchbruch versucht wird, dann muss durch Warnrufe. Ich habe das jetzt im Einzelnen nicht mehr in Erinnerung. Und wenn überhaupt bei Widerständigkeit von Fliehenden, dann nur gezielte Schüsse in die Beine. Das wurde sozusagen hingestellt als der normale Umgang, der an jeder Grenze üblich ist. Damit hat sich das Politbüro nie auseinandergesetzt. Mir selber ist das auch erst im Verlauf des Prozesses bekannt geworden, wie diese Regelung aussah.

    Meurer: Hat doch jeder DDR-Bürger gewusst damals?

    Schabowski: Bitte!

    Meurer: Hat doch jeder DDR-Bürger gewusst, was an der Grenze passiert. Sie nicht?

    Schabowski: Aber sicher! Es ist doch aber ein Unterschied, ob Leute umkommen, erschossen werden, oder ob in einem Prozess dokumentiert wird, das was an Papieren existiert darüber. Das halte ich für einen formalen Streit. Da stimme ich Ihnen ja zu. Sonst wäre ja mein Standpunkt nicht zu begreifen, wenn ich sage jeder hat gewusst. Natürlich haben auch die Mitglieder des Politbüros gewusst, dass Leute an der Grenze umgekommen sind, unter Berufung sozusagen auf die Interessen des Staates. Und damit ist man verantwortlich dafür. Das ist das, was ich gesagt habe. Da kann man streiten, ob der Befehl vergleichbar ist mit Befehlen in anderen Ländern, ob das nichts Abweichendes ist und dergleichen. Aber insofern hat doch diese letzte Enthüllung, die Frau Birthler bekannt gemacht hat, noch mal einen Akzent hinzugesetzt. Da kommt in besonderer Weise die Brutalität dieser Praxis zum Ausdruck.