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Schaltsekunde
Angst vor dem Blackout

Am 1. Juli kurz vor 2 Uhr Nachts wird eine Schaltsekunde eingeschoben. Experten denken aber schon länger darüber nach, die Schaltsekunde abzuschaffen oder etwa durch eine Schaltminute alle 60 Jahre zu ersetzen. Denn diese eine Sekunde steht im Verdacht, komplexe Stromnetze, die im Zuge der Energiewende ausgebaut werden, zu gefährden.

Von Ludger Fittkau | 30.06.2015
    Eine Atomuhr CS2 steht im Zeitlabor der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig.
    Eine Atomuhr CS2 steht im Zeitlabor der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Wir leben nicht nur im Atomzeitalter, sondern auch im Zeitalter der Atomzeit. Es sind Atomuhren, die seit 1958 offiziell über die Zeit wachen. Doch die Atomzeit muss immer wieder der Erdrotation angepasst werden. Denn die Erde bewegt sich zum Leidwesen der offiziellen Hüter der Zeit in den ehrwürdigen Sternwarten von Greenwich, Paris oder der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig nicht immer im gleichen Tempo.
    Deswegen gibt es jetzt nach drei Jahren wieder eine sogenannte Schaltsekunde. Damit wird die Atomzeit wieder an die astronomische Sonnen- oder Erdzeit angepasst, die auch mit einer Sonnenuhr gemessen werden könnte.
    "Wie die Erde steht im Verhältnis zu der Sonne, zu den Planeten zu den Sternen, das hängt von dieser Erdzeit ab. Während unsere Atomzeit, nach der wir mehr oder weniger leben inzwischen, ist ja eine ganz gleichmäßige Zeitskala, die erst einmal nichts mit der Erde zu tun hat. Und die wird aber angepasst an die Erdumdrehungen durch diese Schaltsekunden. Und das ist dann ausreichend, um eine astronomische Navigation mit Sextanten zu machen auf See. Das war der Hauptgrund, warum man das damals so eingeführt hat."
    Und so ist es bis heute, obwohl inzwischen kaum noch ein Kapitän auf See mit einem Sextanten navigiert, weiß der Diplom-Physiker und Astronom Wolfgang Dick. Deswegen werde die Schaltsekunde heute gar nicht mehr so recht gebraucht:
    "Deswegen ist diese praktische Anwendung eigentlich obsolet geworden. Die wird nicht mehr gebraucht und das ist jetzt auch ein Grund, warum man darüber nachdenkt, sie ganz abzuschaffen oder andere Formen der Korrektur einzuführen."
    Der Physiker Wolfgang Dick arbeitet mit zwei Kollegen in einer repräsentativen Villa in Frankfurt am Main, die beinahe einmal Sitz des Bundespräsidenten geworden wäre. Nämlich dann, wenn die Mainmetropole nach dem Krieg Bundeshauptstadt geworden wäre. Es kam bekanntlich anders, doch die prachtvolle Villa der Champagner-Dynastie Mumm im Frankfurter Grüngürtel beherbergt heute diejenigen, die für die Bundesrepublik Deutschland die Bewegung der Erde und der Satelliten im Weltraum vermessen - die zentrale Dienststelle des Bundesamt für Kartografie und Geodäsie.
    Koordinierung auf Bruchteile von Sekunden
    Wolfgang Dick wirkt von hier aus auch für eine internationale Vermessungsorganisation - dem sogenannten Erdrotationsdienst. Der liefert amtliche Daten, um etwa den Anstieg des Meeresspiegels international nach gleichen Standards zu registrieren.
    Doch nicht an das Meer denkt Wolfgang Dick aktuell beim Thema Schaltsekunde. Sondern insbesondere an deutsche Mittelgebirge und die Stromtrassen, die sie durchziehen. Gerade die Energiewende könnte nämlich dafür sorgen, dass die Schaltsekunde über kurz oder lang einen Blackout hervorruft, befürchtet Wolfgang Dick. Denn desto komplexer und intelligenter die Stromnetze werden, desto mehr Risiko bringt die Schaltsekunde:
    "Die Befürchtung ist, je komplexer die Systeme werden, zum Beispiel auch Stromnetze, die auch auf Bruchteile von Sekunden genau koordiniert werden untereinander. Dass dann eine Sekunde schon eine große Rolle spielt, wenn die falsch berücksichtigt wird in den Programmen, dass man da einen Ausfall haben könnte. Und bei einem Stromnetz wäre das natürlich schon sehr fatal."
    Bei der letzten zur Atomzeit hinzugefügten Schaltsekunde im Jahre 2012 war es noch nicht zu größeren Netzausfällen gekommen. Lediglich einige australische Fluglinien mussten damals ihre Passagiere per Hand einchecken, weil ihre Computer ausgefallen waren. Der Internetkonzern Google hatte damals die Sekunde in Millisekunden aufgeteilt auf die letzte Stunde vor der Umstellung verteilt, um einen Systemausfall zu verhindern – erfolgreich. Doch für die amtlichen Hüter der Zeit ist das keine Lösung, betont Wolfgang Dick:
    "Es ist eben nicht exakt und man kann die Zeitangaben nicht mit anderen Systemen vergleichen."