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Scharfsichtiger Kommentar zur deutsch-deutschen Geschichte

Das komplexe Verhältnis eines deutsch-deutschen Schriftstellers zu den gesellschaftlichen Gegebenheiten bildet den roten Faden in einem Band mit Aufsätzen, Vorträgen und Interviews von Jurek Becker. "Mein Vater, die Deutschen und ich", herausgegeben von seiner zweiten Ehefrau Christine Becker, enthält rund 40 Texte aus den Jahren 1974 bis 1997.

Von Martin Sander | 27.09.2007
    "Ich bin so erzogen, dass politisches Engagement für mich ein hygienischer Akt ist. Es ist wie Zähneputzen."

    Jurek Becker im Dezember 1992.

    "Ich könnte mir nicht vorstellen, in einer Welt zu leben, die nur von anderen gemacht ist, in der ich also nichts anderes bin als ein Steinchen, das rumgeschoben wird. Das würde an meinem Selbstwertgefühl fatale Folgen haben."

    Ob es um Kritik an den Dogmen der DDR-Kulturpolitik ging, um die Verdrängung des Nationalsozialismus in der alten Bundesrepublik oder um die Gewalttaten von Neonazis im wiedervereinigten Deutschland, Jurek Becker war ein Schriftsteller, der sich immer wieder an politischen Debatten in Deutschland beteiligte - und das nicht ohne Leidenschaft. Zugleich aber war sein öffentliches Engagement von der Sorge begleitet, seine Literatur könne mit politischen statt mit ästhetischen Maßstäben gemessen werden. Anlass dafür bot ihm vor allem das Land, in dem er bis 1977 lebte - die DDR.

    "Vor allem muss Literatur aufhören, in den Geruch zu geraten, der in die Nähe von Konspiration nahezu geht."

    Jurek Becker, geboren 1937 in der polnischen Vielvölkermetropole Lodsch, gestorben 1997 im schleswig-holsteinischen Sieseby, gehörte 1976, nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann, zu den mutigsten Kritikern der DDR-Staatswillkür. Zwar hatte er viele Jahre der SED angehört und war noch 1975 mit dem Nationalpreis ausgezeichnet worden. Doch dann geriet er in die Rolle eines Dissidenten, dessen Romane vorrangig und in Ost und West gleichermaßen mit Blick auf die darin enthaltene Kritik an den Verhältnissen in Ostdeutschland gelesen wurden. 1977 ließ sich Becker - ausgestattet mit einem Dauervisum der DDR - in Westberlin nieder.

    Das komplexe Verhältnis eines deutsch-deutschen Schriftstellers zu den gesellschaftlichen Gegebenheiten bildet den roten Faden in einem Band mit Aufsätzen, Vorträgen und Interviews von Jurek Becker, den der Suhrkamp Verlag zum 70. Geburtstag des vor zehn Jahren verstorbenen Autors vorlegt. "Mein Vater, die Deutschen und ich", herausgegeben von seiner zweiten Ehefrau Christine Becker, enthält rund 40 Texte aus den Jahren 1974 bis 1997. Jurek Becker nimmt darin die deutsche Wirklichkeit in Ost und West gleichermaßen kritisch unter die Lupe vor allem den Literaturbetrieb und die Existenzbedingungen von Künstlern und Intellektuellen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Er selbst hat sich weder mit den ideologischen Zwängen des literarischen Lebens im Osten, noch mit dessen Marktgesetzen im Westen abfinden wollen. 1990, wenige Monate nach der Wende, analysiert er, wie das Verschwinden der DDR-Literatur mit einer Radikalisierung des Kapitalismus im neuen gesamtdeutschen Literaturbetrieb einhergeht. Das Überangebot an frei verkäuflichem Lesestoff mache den Schriftsteller zu einem pausenlos nach Aufmerksamkeit heischenden Geschäftsmann, was sich stilbildend auswirke - im schlechten Sinne.

    "Man weiß, wie es Vertretern geht, die müde von Tür zu Tür ziehen und anklopfen, in ständiger Angst vor den Hunden. Wie sie durch Gucklöcher beobachtet werden, wie nur jede zehnte Tür sich öffnet, meist bei vorgehängter Kette. Wie der Vertreter durch den Türspalt zu hören kriegt, dass man nichts braucht und auch keine Zeit hat. Dann muss er munter, freundlich und forsch beweisen, dass es sich lohnt, sein Angebot anzunehmen, er redet gegen das Türschließen an. Es stehen ihm nur Sekunden zur Verfügung, dann muss die Sache erledigt sein, er hat nicht die Zeit, genau zu sein und von Einzelheiten zu sprechen. Der Tonfall dieser geplagten Menschen ist zunehmend der Tonfall unserer Literatur geworden."

    In den Aufsätzen, Vorträgen und Interviews dieses Bandes offenbart sich eine für Jurek Becker bezeichnende ironische Distanz zur Welt. Die Haltung wirkt gelassen, kommt indes nicht ohne eine Spur von Bitterkeit aus. Seine Weltsicht, mutmaßt der Autor, sei wohl in den Erfahrungen aus der Kindheit begründet. Als Sohn jüdischer Eltern verbrachte Jurek Becker die Jahre von 1939 bis 1945 im Getto von Lodsch und in deutschen Konzentrationslagern, an die er - wie er erklärt - keine präzise Erinnerung bewahrt hat. Das Gedächtnis setzt erst mit dem Jahr 1945 ein. Damals beschloss sein Vater Max Becker der anders als die Mutter den Holocaust überlebte, sich in Ostberlin niederzulassen, zusammen mit seinem Sohn. Der hörte nun im Alter von acht Jahren auf, Polnisch zu sprechen und begann erst jetzt, die deutsche Sprache zu erlernen. Der Vater habe seine Entscheidung damit begründet, die Diskriminierung von Juden könne an dem Ort, an dem sie ihre schrecklichsten Formen angenommen hatte, auch am gründlichsten beseitigt werden, und er sei 1972 in der Überzeugung gestorben, sich wenigstens in diesem Punkt nicht geirrt zu haben, erklärt Jurek Becker in einem Vortrag von 1977. Doch auch als Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit im wiedervereinigten Deutschland erneut zur Tagesordnung gehören, will Jurek Becker seinen öffentlichen Protest nicht mit seinen eigenen Lebenserfahrungen begründen. 1992 erklärt er dazu in einem Hörfunkinterview:

    "Das, was jetzt passiert, was sich jetzt in Deutschland, in einem Teil Deutschlands - mit einem Teil meine ich nicht einen geografischen Teil, sondern einen Bevölkerungsteil - was sich in einem Teil Deutschlands zuträgt, erinnert mich nicht mehr als bisher an meine Vergangenheit, und ich sehe es eigentlich nicht in einem bestimmten Licht. Ich sehe es mit einem Zorn und mit einem Abscheu, die viele Leute teilen, die weit entfernt von meiner Vergangenheit sind. Um entsetzt zu sein, dass rechtsradikaler Pöbel Ausländerheime ansteckt, dafür muss man nicht in einem Getto gewesen sein und dafür muss man nicht das Kind jüdischer Eltern sein."

    Im Mittelpunkt der Aufsätze, Vorträge und Interviews des Bands "Mein Vater, die Deutschen und ich" stehen die Betrachtungen von Jurek Becker zur Politik und zum Literaturbetrieb. Vergleichsweise wenig erfährt man über sein eigenes literarisches Werk. Eine Ausnahme bildet hier "Jakob der Lügner", Beckers erster und international bekanntester Roman, der 1969 in der DDR erschien. Die lakonisch erzählte Geschichte von Jakob Heym, dem Mann im Getto, der seinen Schicksalsgefährten mit erfundenen Meldungen über die nahe Befreiung, mit Meldungen aus einem nicht existierenden Radio Lebensmut gibt, nimmt auch im Leben des Schriftstellers Becker eine Sonderstellung ein. Die Veröffentlichung des autobiografisch gefärbten, aber bewusst nicht wirklichkeitstreu erzählten Romans "Jakob der Lügner" führte unter anderem zu einem tiefen Konflikt mit seinem Vater.

    "Das war ein Unglück, weil er nach diesem Buch lange nicht mit mir gesprochen hat. Er hat das Buch für empörend gehalten. Sein einziger Kommentar dazu war: 'Die blöden Deutschen kannst du belügen über die Zustände im Getto, aber nicht mich. Ich bin dabei gewesen."

    Der Grund für diese heftige Reaktion des Vaters wird auch aus dem ausführlichen Interview der Literaturwissenschaftlerin Marianna Birnbaum mit Jurek Becker nicht deutlich. So kann der Leser nur spekulieren, dass Max Becker den Roman womöglich ablehnte, weil "Jakob der Lügner" keinen politischen Widerstand im Getto offenbarte und in der Darstellung auf jedes Pathos verzichtete.

    Mein Vater, die Deutschen und ich" dokumentiert den ungewöhnlichen Lebensweg eines der bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren und liest sich darüber hinaus wie ein vielschichtiger, scharfsichtiger Kommentar zur deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte.


    Jurek Becker: Mein Vater, die Deutschen und ich
    Aufsätze, Vorträge, Interviews. Herausgegeben von Christine Becker.
    Suhrkamp Verlag, 320 Seiten, 19,80 Euro