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Schatten auf einer unbekümmerten Kindheit

In ihrem autobiografischen Roman "Nirgendwo im Haus meines Vaters" hält sich Assia Djebar beim Erzählen an die Chronologie der Ereignisse. Gleichzeitig folgt sie unbeirrt dem Rhythmus ihrer Erinnerungen und verdichtet die prägenden Sinneseindrücke und Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend zu höchst poetischen Bildern.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 03.03.2010
    Assia Djebar, 1936 in Cherchell bei Algier geboren, ist zweifelsohne die bekannteste und vielseitigste Filmemacherin und Schriftstellerin des Maghreb, die sich als Regisseurin, Drehbuchautorin, Dramaturgin, Dichterin und Romanautorin sowie als Historikerin und Hochschullehrerin profilierte.

    Für ihre beiden Filme sowie die zahlreichen, in viele Sprachen übersetzten Romane und Essays wurde sie mehrfach ausgezeichnet: 1979 mit dem Preis der Internationalen Kritik auf der Biennale in Venedig, 1996 in den USA mit dem Neustadt Literaturpreis und im Jahr 2000 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels, um nur die wichtigsten zu nennen.

    2005 wurde sie als erste Schriftstellerin des Maghreb in die Académie Francaise aufgenommen. In ihrer Antrittsrede vom 22.6.2006 fand sie deutliche Worte der Kritik für die monolinguale Sprachpolitik der Franzosen sowie die in den 90er-Jahren einsetzende Arabisierung, die die Mehrsprachigkeit Algeriens unberücksichtigt ließ. Assia Djebar betonte in dieser Rede, dass sie ein Französisch schriebe, in dem das Berberische und Arabische mitschwängen.

    Assia Djebar hat über die Träume und Sehnsüchte, die Konflikte und Kämpfe der Frauen des Maghreb geschrieben. Abgesehen von "L'amour, la fantasia" (1985) hat sie die eigene Biografie nie direkt zum Gegenstand des Schreibens gemacht. Das ändert sich mit ihrem jüngsten Roman "Nirgendwo im Haus meines Vaters", dem ersten Band einer breit angelegten literarischen Selbsterkundung, in dem sie ihre Kindheit und Jugend evoziert, sinnlich und grundehrlich.

    "Ich hatte eine selbst zerstörerische Erfahrung versteckt, und als sie wieder hochkam – ich habe vergessen wie – ist sie mit Wucht hochgekommen, wie die Brandung der Erinnerung. Mir wurde klar, man musste sie von Anfang an aufrollen, wenn man sie verstehen wollte, das heißt, da war nicht zuerst der Impuls, eine Autobiografie schreiben zu wollen, vielmehr die Erinnerung an die Verzweiflung mit siebzehn, die ich völlig verdrängt hatte. Als die hochkam, habe ich endlich, doch ganz allmählich verstanden, dass ich, um sie noch einmal zu durchleben, von der Kindheit ausgehen musste."

    So beschreibt Assia Djebar die Entstehungsgeschichte ihres autobiografischen Romans, der in drei Teile gegliedert ist: Kindheit, Internat, erste Liebe in Algier.

    Sie hält sich beim Erzählen an die Chronologie der Ereignisse, folgt jedoch unbeirrt dem Rhythmus ihrer Erinnerungen und verdichtet die prägenden Sinneseindrücke und Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend zu höchst poetischen Bildern. Sie erzählt von einer wohlbehüteten Kindheit, dem zaghaften Aufbegehren einer Heranwachsenden, den vagen Sehnsüchten einer radikalen Einzelgängerin und ihrer verstörenden Selbstsuche zwischen den Sprachen und Kulturen.

    Die ersten Lebensjahre sind die eines wohlbehüteten Mädchens. Als Kind begleitet sie die stets in einen weißen Schleier gehüllte Mutter auf ihren Gängen durch die Kleinstadt und teilt mit ihr jeden Donnerstag den vergnüglichen Besuch des Dampfbades, des Hamam.

    Ein erster Schatten fällt auf die unbekümmerte Kindheit, als der Vater der Fünfjährigen wutentbrannt das Fahrradfahren verbietet mit dem Argument, dass dann ihre nackten Beine für alle weithin sichtbar seien. Dieses aus heiterem Himmel kommende Verbot des Vaters hat traumatische Langzeitwirkung, da Assia Djebar trotz wiederholter Anläufe bis heute nicht Fahrrad fahren kann. Seither war das Verhältnis zu dem früh verstorbenen Vater äußerst ambivalent. Er war der einzige algerische Lehrer an der französischen Grundschule der Kleinstadt und unterrichtete die einfachen Bauernsöhne der Umgebung. Dem Vater hat sie es zu verdanken, dass sie als eins der ersten Mädchen die französische Grundschule und anschließend das Gymnasium besuchen konnte. Seiner Tochter gegenüber gebärdete sich der aufgeschlossene und der politischen Linken nah stehende Vater als strenger Sittenwächter, der ihre Bewegungsfreiheit einschränkte. "Wenn das mein Vater erfährt, bringt er mich um ... "; lautete einer ihrer Negativsätze aus jenen Jahren.

    "Mein Vater war ziemlich puritanisch. Er war stolz auf mich, weil ich in der Schule Erfolg hatte. Wenn er mich jedoch mit einem Jungen auf der Straße sah, ganz gleich, ob Araber oder Franzose - und man sollte nicht vergessen, dass das über 50 Jahre zurückliegt – schickte er mich sofort wutentbrannt nach Hause. In dem traditionellen Milieu, in dem ich aufwuchs, lebten die Männer für sich und die Frauen auch. Wir waren drei Geschwister. Meine Eltern lebten in einer Symbiose.

    Ich war somit nicht vorbereitet auf eine Männerwelt, die ihre Zeit damit verbringt, die Welt der Frauen zu überwachen, sich als Hüter des Harems zu gebärden, da sich meine Mutter, obwohl sie verschleiert war, völlig frei fühlte. Meine Eltern hatten eine ungewöhnliche Paarbeziehung und das hatte zur Folge, dass ich auf die reale Alltagswelt der Muslime schlecht vorbereitet war. In der Familie meines ersten Mannes fürchteten sich die Frauen vor der Beurteilung der Männer."

    Auf der französischen Internatsschule wird bei der Heranwachsenden die Liebe zur Literatur geweckt - nebst diffusen Sehnsüchten nach mehr Freiheit. Das junge Mädchen befreundet sich lieber mit gleichaltrigen Französinnen, einfach weil sie ungezwungener mit den Jungs umgehen als die Algerierinnen, die unter männlicher Bevormundung und rigiden Bekleidungsvorschriften leiden. Mit ihrer Freundin Mag begeistert sie sich für Baudelaires Gedichte und diskutiert angeregt über die Romane von André Gide, Charles Péguy und anderen Romanciers der französischen Literatur.

    "Ich verbrachte zuhause bei meinen Eltern die Zeit mit Lesen, ich verbrachte viel Zeit mit Lesen, ich war nicht sehr schlagfertig bei den Gesprächen der Cousinen, die offensichtlich viel unfreier waren als ich. Der ganze Klatsch interessierte mich nicht sonderlich. Lesen bedeutete Evasion. Ich las selbstverständlich auf Französisch, ich las viel, alles, was mir in die Finger fiel. Ich konnte die ganze Nacht über lesen, bis drei Uhr morgens. Außerdem trieb ich viel Sport, spielte im Internat vor allem Basketball, jedoch mit Angst. Wenn wir im Stadion spielten, sagte mein Vater zu mir, ich dürfte nicht in Shorts ins Stadion gehen."

    Arabischunterricht gibt es auf diesem Internat nicht, auch nicht auf Nachfrage der jungen Ich–Erzählerin. Dass sie dieses Manko in der Beziehung zu ihrem Freund und späteren Ehemann Tarik zu kompensieren versucht, ist leicht nachvollziehbar.

    Unter Missachtung aller väterlichen Verbote, spaziert sie mit Tarik stundenlang durch die Straßen von Algier, wohin ihre Familie nach der Versetzung des Vaters gezogen war. Über Tarik, der seinen Liebesbriefen stets ein paar arabische Liebesgedichte beifügt, findet sie Zugang zu den Meisterwerken der arabischen Lyrik wie dem präislamischen Muallaquat und den Liebesgedichten von Rumi, dem weltbekannten mystischen Dichter des Islam, der im XII. Jahrhundert im anatolischen Konya den Orden der tanzenden Derwische ins Leben gerufen hatte. Nachdem Tarik sie in einem ihrer üblichen Dispute tief gekränkt hat, wirft sie sich in ihrer Verzweiflung vor die herannahende Straßenbahn.

    "Nachdem ich enttäuscht war von diesem Verlobten, den ich wegen seiner Kenntnisse der arabischen Literatur idealisiert hatte, habe ich versucht, mich zu bestrafen für das Vertrauen, das ich ihm entgegengebracht hatte."

    Die Erinnerung an diesen jahrelang verdrängten Selbstmordversuch steht am Anfang von Assia Djebars literarischer Selbsterkundung, die ihr, wie sie gesteht, nicht leicht gefallen ist, sie jedoch erleichtert hat. Herausgekommen ist ein sehr persönlicher Roman in einer sinnlichen und direkten Sprache, der zeigt, dass sich das Aus-der-Reihe-Tanzen lohnt, trotz Bevormundungs- und Einschüchterungsversuchen.

    "Ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt im Roman erwähnt habe: Mit zehn oder elf habe ich mir immer ganz neidisch die Bälle der Europäer angeschaut und gesagt: Mein Gott, da würde ich liebend gern mittanzen! Selbstverständlich hielt ich das für einen Traum. Als ich frei tanzen konnte - ich tanzte immer allein - kam meistens ein junger Mann zu mir, der mich zum Tanzen auffordern wollte. Dem habe ich entgegnet: Nein, ich tanze allein. Und ich tanzte allein."

    Assia Djebar: Nirgendwo im Haus meines Vaters,
    S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2009, Preis: 21,95 EURO
    Übersetzung aus dem Französischen: Marlene Frucht