Donnerstag, 25. April 2024

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Schaudern, Grauen, Seligkeit

Zwischen Januar und September 2008 entstanden 40 Gedichte, in denen Friederike Mayröcker dem hymnischen Ton und den freien Rhythmen Friedrich Hölderlins folgt. Meist reicht ein einzelnes Wort, manchmal ein Teil einer Verszeile, um die Sehnsucht zu beflügeln.

Eine Besprechung von Cornelia Jentzsch | 17.06.2009
    Die Tasse Blut im Berberitzenstrauch,
    ich kritzele in der leeren Schublade aus Holz,
    im Hof die zweite Blüte des Kastanienbaums, die Welt so mannigfaltig
    in ihren Schmerzen, und in ihrem Sehnsuchtsglück,
    was für ein Wunder, das der Himmel weint,
    nein, peitschend gegen meine Fenster, Quellen ergieszen sich in meine Hand, in meine Seele, was für ein Wunder, ach,
    als hätte ich noch nie das grüne Wasser fallen sehen auf die Erde,
    was für ein Wunder, das die Kräuter, Gräslein, Augen nasz,
    mein Schmerz, mein Glück, Erika [.....] sagt bonheur,
    was für ein Wunder, es schmettern, jauchzen., floren, kühlen auf meine neugeborenen Hände, Arme, Knie, ich kann's nicht fassen,
    es ist der erste Tag, mein erster Lebenstag, ich muss erst alles lernen,
    fassen und enträtseln,
    was für ein Wunder, dass ich lebe, leben darf,
    vielleicht noch einen Tag, ein Jahr, noch einen Atemzug,
    die Blüten, süß in ihrer Heimlichkeit, wie lieb ich sie, wie lieb ich diese Erde, diesen Mund, wie wunderbar dies Leben, diese Prozession der Jahre und Jahrzehnte, so fange ich erst jetzt zu leben an, zu lieben,
    dort hinten, hinter mir, da hockt die grosze Angst,
    Schmachtlocke Tod


    ... so las es Friederike Mayröcker unlängst im Deutschen Theater in Berlin. Inzwischen ist ein neuer Poesieband von ihr erschienen mit dem Titel "Scardanelli". Er bringt Kassiber und Botschaften aus dem unheimlichen Schwellenreich zwischen Leben und Tod, Anwesenheit und Abwesenheit, Ankommenkönnen und Verlassenmüssen. Wie in einem Atemzug erzählt Friederike Mayröcker vom saugenden Malstrom hinab in die unaufhaltsame Vergänglichkeit und zugleich von der belebenden, "lustathmenden" Aufwärtsströmung der greifbaren Welt.
    Der Tod ist ein Skandalon!, rief sie in einem Interview. Das Jenseits sei das fremde Land, das sie niemals betreten wolle, notiert sie an anderer Stelle. Dessen ungeachtet muss sich Friederike Mayröcker seit dem Tod ihres Lebens- und Dichtergefährten Ernst Jandl vor neun Jahren mit diesem Skandalon hautnah auseinandersetzen, und sie tut es mit furchtloser Heftigkeit. Wie spürbar anwesend der Verlorene für sie noch immer ist, wird auch an diesem neuen Gedichtband ablesbar. Gleichzeitig begegnet die 84jährige zunehmend unausweichlicher der eigenen Vergänglichkeit. Sie umkreist, verleugnet, beschwört ihre fast körperlich spürbare Angst vorm Tod - und dennoch glaubt man in diesen Gedichten auch eine leise Erlösungshoffnung, eine milde Sehnsucht zum Tode hin zu lesen. Denn nur am anderen Ufer des Lethe, der als Fluss des Vergessens das Reich der Toten von dem der Lebenden trennt, kann man den Verstorbenen erneut begegnen.
    Die ungewisse Zukunft in einer nachrichtenlosen Welt des Nichts, für die man die gegenwärtige, bis zum Bersten gefüllte verlassen muss, ließ verständlicherweise schon immer das über sich selbst reflektierende Wesen Mensch erschaudern. Friederike Mayröcker nun umfährt dieses Entsetzen bis in die letzte Faser. Sie beschreibt mit überwachem Bewusstsein und mit einer bis an die Schmerzgrenze gehenden, wie rasend arbeitenden seismografischen Empfindsamkeit ihr Hin-und Hergerissensein, ihren schüttelfrostartigen, kaum auflösbaren Zustand in diesem existenziellen Noch-Nicht und Nicht-Mehr. Der Titel des Gedichtbandes "Scardanelli" ist deshalb weit mehr als nur eine Referenz an den Dichter Friedrich Hölderlin, der seine späten Tübinger Gedichte mit eben diesem Namen unterzeichnete. Inwieweit der frühe Tod Susette Gontards, Geliebte, Seelenverwandte und als Diotima unsterblich eingeschrieben in seine Dichtung, inwieweit dieser Verlust Hölderlin in seinen späteren Wahnzustand mit hineintrieb, bleibt bis heute vermutet. In seinem Briefroman Hyperion schreibt Hölderlin an Diotima: "Sie war mein Lethe, diese Seele, mein heiliger Lethe, woraus ich die Vergessenheit des Daseyns trank..."
    In ähnlich brennenden Erfahrungen werden der Dichter des 18. Jahrhunderts und die Dichterin des 20. Jahrhunderts zu nahen Seelenverwandten. Beide verloren nicht nur eine ihnen symbiotisch vertraute Person. Beide sehen, gesteigert durch diesen Verlust, die Abläufe, Gefährdungen und Schönheiten einer Welt bis hinab auf ihren Grund. Hölderlin: "Ach! Wir kennen uns wenig, denn es waltet ein Gott in uns." Ein unaufhörliches Verschränken mit Hölderlins Gedichten, mit ihrer inneren Geistesverfassung, schafft tröstliche, vertraute Nähe. Friederike Mayröcker schreibt: "ich möchte / leben Hand in Hand mit Scardanelli".
    Die von ihr in die Gedichte eingearbeiteten Hölderlinzitate, meist einzelne Wort- oder Satzfetzen, diese "Prise Hölderlin", wie sie es nennt, sind mehr als nur Verbeugungen vor einem poetischen Ahnen. Hier, in diesem gemischten Doppel zweier Stimmen, sprechen zwei Einzelwesen abwechselnd vom Gleichen. Beide erlebten das existenziell erschütternde Wissen, dass sich jedes Leben nur um den Preis seiner eigenen Vergänglichkeit vollenden kann.

    Hatte ich im Garten geschuftet Dornen gesät : mir in die Finger-
    kuppen der rechten Hand Dornen gesät, zerzauster Strauch der ster-
    benden Nachtviolen neben der schwarzgewordenen Königskerze. Zerlump-
    te Blumensträusze in kl.Kübeln auf der Toilette : Fäulnisgeruch ver-
    strömend wie Aufbahrungshalle.
    Diese Sehnsuchtsberge, Rotkehlchenträume, die verzettelten (einzelnen)
    Schuhe im Flur – nachts zur Toilette wankend stolpere ich darüber,
    ach welche Seligkeit : Couperin aus dem Äther
    damals vor wie vielen Jahren die sommersprossige Halde, die wir,
    einander an Händen haltend, ins Tal liefen, sehnsüchtige Bäche uns
    blühten, Höld. ...

    Wie hartnäckige Erinnerungspartikel blitzen einzelne, von Hölderlin oft verwendete Worte immer wieder in Mayröckers Gedichten auf: Hände, Schaafe, verborgene Veilchen... Es sind die Scharniere zu Hölderlins Texten wie gleichsam die Codes einer gemeinsamen Ursprache. Zweifellos gehört auch die biblische Mythologie, in der das Schaf für die Herde Gottes steht, zu diesen Codes.
    Diese Chiffren und Zeichen erzählen im weitesten Sinn aber auch von einer Natur, die gerade durch ihr regelmäßig kreislaufendes Werden und Vergehen dem Menschen verlässlicher Quell und Boden seiner Existenz ist. In seiner späteren Scardanelli-Zeit zieht sich Hölderlin fast völlig in knappe Beschreibungen des Frühling-Sommer-Herbst-und-Winter-Zyklus zurück. "Es ist die Ruhe der Natur" schreibt er, "dass der Mensch nach solcher Freude schauet...".
    Todesängste nun und das Erlebnis gravierender Verluste erzeugen dagegen eine beunruhigende Nähe zur eisigen und vom Verstand nicht zu erwärmenden Ewigkeit. Diese Berührung aber schärft erst den Sinn fürs Dasein und löst eine tiefe Ehrfurcht dem Leben gegenüber aus. Für den Philosophen Friedrich Hegel verwandelte erst die Angst das menschliche Bewusstsein in Selbst-Bewusstsein, dass den Menschen seine spezielle Position im Universum erkennen lässt. Sören Kierkegaard sah in der Angst vor dem Nichts den eigentlichen Grund dafür, warum der Mensch selbstverantwortlich denkt.
    "Das Zimmer leer nur die Vase die Blumen zwei alte Stühle" – immer wieder fragt Friederike Mayröcker angesichts des Zurückgebliebenen fassungslos, wie Fehlendes überhaupt geschieht, worauf es deutet. Unentwegt erspürt sie in einem somnambulen Zustand innerer Vermischung, ja fast Verwechselung das abwesend Anwesende oder anwesend Abwesende. Sie schreibt: "...erschrecke zuweilen dass der zu dem ich spreche nicht da ist". Ähnlich Hölderlin wird auch Jandl zum Scardanelli in seiner so unerreichbaren Ferne wie spürbaren Anwesenheit. In allem, was der Dichterin begegnet und entgegenkommt – in Berührungen, Bewegungen, Dingen –, bezeugt der bereits Entglittene seine erneute lebendige Anwesenheit und hinterlässt weiter seine Spuren: "Nachts nadelst du als Regen an mein Fenster."
    Nicht Orpheus singt hier mit göttergleicher Stimmgewalt Eurydike aus der Unterwelt wieder herauf, sondern Eurydike holt mit ihrem Gesang den Partner aus dem körperlosen Jenseits zurück. Die Begegnung allerdings glückt nur auf halbem Weg, eben in jener Übergangs- oder Randzone. Über dieses unauflösbare wie hellwache Verharren auf der Schneide von An- und Abwesenheit, dessen Perspektive nach beiden Seiten hin ist so unendlich offen ist – ein Zustand wie ihn Hölderlin 37 Jahre lang wohl durchlebte –, schreibt Maurice Blanchot einen bezeichnenden Satz. Es sei, als ob sich "vorübergehend etwas offenbare, das Schaudern, Grauen, Seligkeit erregt".

    Was brauchst Du?
    Ein Baum, ein Haus, zu ermessen wie grosz wie klein
    das Leben als Mensch, wie grosz wie klein
    wenn du aufblickst zur Krone, dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
    wie grosz wie klein bedenkst du wie kurz dein Leben
    vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
    du brauchst einen Baum, du brauchst ein Haus, keines für dich allein
    nur einen Winkel, ein Dach
    zu sitzen, zu denken, zu schlafen, zu träumen, zu schreiben, zu schweigen
    zu sehen den Freund
    die Gestirne, das Gras, die Blume, den Himmel



    Friederike Mayröcker: Scardanelli. Gedichte.
    Suhrkamp Verlag. 56 S., Euro 14,80