Freitag, 19. April 2024

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Schauspieler Vassilis Koukalani
"Es gibt ein Tief beim künstlerischen Aktivismus"

Wenn die documenta von Athen lernen will, dann sollte sie von den Menschen lernen, sagte Schauspieler und Aktivist Vassilis Koukalani im DLF. Zum Start der Schau in Athen stellt er dem Kunstbetrieb ein nüchternes Zeugnis aus - und spricht von Müdigkeit und Demütigung.

Vassilis Koukalani im Corsogespräch mit Marietta Schwarz | 07.04.2017
    Der Schauspieler und Aktivist Vassilis Koukalani vor einem Graffiti
    Der Schauspieler und Aktivist Vassilis Koukalani (Deutschlandradio / Stephanie Cisowski)
    Marietta Schwarz: Warum Athen als documenta-Außenstation, könnte man sich fragen in Zeiten, in denen wir viel vom Brexit erfahren, aber nicht mehr so viel vom möglichen Grexit sprechen. Die Herausforderung, wie man mit extremer Verschuldung und mit Flüchtlingen umgeht, ist hier nach wie vor aktuell und sie hat auch die Hauptstadt Athen verändert. Vassilis Koukalani, Sohn einer griechischen Mutter und eines iranischen Vaters, hat in Berlin und in New York studiert, zog dann aber als Schauspieler und Regisseur zurück nach Athen. Und wir erwischen ihn bei Dreharbeiten auf Zypern. Hallo, Herr Koukalani.
    Vassilis Koukalani: Hallo, guten Tag.
    Schwarz: Sie sind indirekt ja auch Teil der documenta, weil Sie in diesem Film "Tripoli Cancelled" mitspielen. Einen Film über diesen verlassenen Flughafen Ellinikon. Was erzählt dieser Film über das aktuelle Leben in Athen und in Griechenland?
    Koukalani: Es geht um eine Geschichte, die meinem Vater irgendwann passiert ist in den 70er-Jahren. Er hat seinen Pass vergessen - in Kalkutta, glaube ich, oder irgendwo in Indien jedenfalls. Und dann konnte er aus Athen nicht weiter nach Tripoli, also nach Libyen reisen, bis die irgendein Dokument bekommen haben, von der Botschaft aus Bangladesch. Er hat zehn Tage verbracht in diesem Flughafen, durfte nicht heraus und so weiter. Irgendwie hat das Naeem zu dem heutigen Zustand des Flughafens, der verlassen ist, der wirklich veraltet ist, trotzdem aber noch sehr, sehr typische Merkmale eines früheren Flughafens und einer Geschichte von Athen behalten hat. Und auf einmal überholt ihn die Geschichte und da sind wieder Leute, die im Transit stecken bleiben, was sehr typisch ist für die griechische Wirklichkeit gerade.
    Schauspieler Vassilis Koukalani, aufgenommen aus der Box im Museum für zeitgenössische Kunst (EMST) in Athen auf der documenta 14
    Schauspieler Vassilis Koukalani in "Tripoli Cancelled" (Deutschlandradio / Britta Bürger)
    Schwarz: Im Transit stecken zu bleiben.
    Koukalani: Genau. Unmittelbar vor allem für die Migranten und die Flüchtlinge, die in Athen stecken geblieben sind, nicht weiter nach Europa dürfen seit dem Herbst '15 und die in einem Land stecken bleiben, das als Grenze Europas gilt, wo es aber wirklich keine Hilfe und Nachsicht gibt objektiv. Und vielleicht geben könnte.
    Verlassene Orte der Stadt
    Schwarz: Würden Sie sagen, dass dieser Flughafen … Das hört sich ja auch nach einem sehr starken Ort an, ein verlassener Flughafen. Gibt es von diesen Orten viele in Athen?
    Koukalani: Naja, nach der Olympiade, wo ja vieles sehr, sehr schnell geschaffen wurde, sind ganze Orte verlassen: Stadien, Spielstätten und Rennbahnen. Die sind alle verwüstet, sie sind alle verlassen, weil natürlich Griechenland vor allem seit 2008, '09, '10 spätestens wirklich gar nicht mehr mit solchen Sachen etwas anfangen kann und die vor allem auch nicht wirklich beihalten kann, so wie es aussieht. So wie man uns erzählt hat.
    Schwarz: Ja. Das interessant, weil: Aus einer "satten" deutschen Perspektive klingt das nach Freiräumen, die wir in unseren Städten eigentlich nicht mehr haben, weil es Zuzug und Verdichtung gibt. Was passiert mit diesen Orten? Werden die kreativ genutzt?
    Wir haben noch länger mit Vassilis Koukalani gesprochen - Hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
    Koukalani: Also in den Krisenjahren, so wie sie jetzt genannt werden, gab es natürlich Initiativen von Menschen und Bürgern, die versucht haben, selbst improvisatorisch und autonom Sachen zu machen - Plätze zu besetzen, sie wirklich konstruktiv und produktiv Menschen zugänglich zu machen. Aber mittlerweile sieht es so aus, als ob viele von den Stätten spottbillig an irgendwelche großen Unternehmer verkauft werden, damit die irgendwelche Shoppingmalls machen. Und vor allem der Flughafen wird, glaube ich, einem riesengroßen Unternehmer gegeben, der natürlich Vergnügungsviertel machen will, für die man bezahlen muss und in die man nur herein darf, wenn man Geld hat.
    Schwarz: Haben Sie das Gefühl, dass die documenta das thematisiert, diese Entwicklung?
    "Von Athen lernen - da muss Athen dabei sein"
    Koukalani: Also es ist interessant. Als die documenta angefangen hat: Ich glaube, der erste Redner war Toni Negri, eine sehr, sehr interessante Persönlichkeit aus den 70er-Jahren und politischer Forscher und Schriftsteller der heutigen Zeit. Und da saßen irgendwelche "Künstler" - in Anführungszeichen - vielleicht "satte Künstler", schöne Frauen barfuß und haben zugehört, sehr, sehr intensiv und aufmerksam. Und ich habe mir schon am Anfang gedacht: Okay, die documenta will von Athen lernen. Wo ist Athen? Sind das nur die Künstler von Athen? Wer sind die Künstler von Athen? Wir wissen nicht einmal selbst wirklich, wer die Künstler sind, wer hier wirklich um Kunst - um soziale Kunst vielleicht - kämpft. Das heißt: Irgendwie war das abwesend. Und jetzt kommt die Eröffnung der eigentlichen Ausstellung, und ich weiß auch selbst nicht so, so viel von dem, was passiert ist, was von Athen gelernt worden ist. Ich weiß aber sicher, dass 80 Prozent der Stadt mit etwas ganz anderem beschäftigt sein wird. Ich bin aber mal gespannt, wie das ausgewertet wird. Von Athen lernen - da muss Athen dabei sein. Und ich meine die Menschen von Athen.
    Schwarz: Und Sie glauben, dass die documenta-Kunst, nenne ich sie jetzt mal, die Bürger von Athen vermutlich weniger erreicht als diejenigen, die extra nach Athen reisen, um sich das anzuschauen.
    Koukalani: Absolut. Die Stätte, die ausgesucht wurde, wo unser Film spielt: Anstatt dass er wirklich im Flughafen spielt, wo Naeem Mohaiemen das auch haben wollte, nämlich im alten Flughafen, das wird jetzt in einem Museum, in einer abgedunkelten, schönen Halle mit irgendwelchen Sitzen gespielt. Es ist also nicht eine Installation, die wirklich tief eingreift in das innere Athen, in die Wirklichkeit Athens, von der documenta. Ich finde die documenta gut, die Idee finde ich gut. Das Geschriebene finde ich gut. Ich weiß nur nicht, ob es wirklich an weitere Menschen kommen wird, außer die Kunstliebhabern und die Künstlern selbst. Das ist also ein bisschen selbstbezüglich, wie es auch die meiste Kunst gerade ist.
    Wo ist die Athener Wirklichkeit zu sehen?
    Schwarz: Herr Koukalani, wenn jemand dann doch die von Ihnen erwähnte Athener Wirklichkeit sehen will - welche Orte würden Sie dem empfehlen?
    Koukalani: Also erstens würde ich auf jeden Fall empfehlen, sich in Exarchia und im Zentrum um die Universität die Sache ein bisschen anzugucken, um zu sehen, wie die Jüngeren, die Jugendlichen, wie die Studenten, wie die politischen Aktivisten dort sind. In was für einem Zustand diese Nachbarschaften sind. Ich würde vorschlagen, dass sie zu dem besetzen Theater Embros gehen und ich angucken, was da gespielt wird. Weil da kannst du wirklich alles ankündigen, was du willst, und es wird immer voll sein. Weil Menschen gehen da hin, sie vertrauen dieser Stätte und gucken sich dort Theater, Musik, Diskussionen und alles Mögliche an. Es ist gerade auch eine Zeit, wo es ein Tief gibt, vor allem was künstlerischen Aktivismus und so weiter angeht, was auf der Straße passiert. Die Demonstrationen, die zwischen 2010 und 2015 geschahen, waren von selbst schon sehr, sehr oft künstlerische Ereignisse.
    Schwarz: Ermüdungserscheinungen.
    Koukalani: Ermüdungserscheinungen und vielleicht auch Demütigungserscheinungen. Vielleicht ist es gut, in den Diskussionen das einzubringen: Wie kommt die Kunst an die Menschen, die es nötiger haben als die, die sie sowieso sehen?
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.