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Schauspielhaus Zürich
"Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper"

Von Cornelie Ueding | 22.03.2015
    Erst erscheint nur eine greisenhaft anmutende alte Dame: ganz langsam, gebeugt, etwas zittrig. Wie zerbrechlich tastet sie sich hinter der Glasfront des Seniorenheims entlang, zwängt sich mithilfe ihres Stocks durch eine schwere Tür. Endlich auf der Spielfläche, in einer Art unpersönlichem Warteraum angekommen, sinkt sie auf einen der aufgereihten Stühle, atmet durch – und legt behutsam eine Platte auf. Kaum erklingen dann etwas kratzig die ersten Töne der Schlussszene der "Traviata", kommen auch noch fünf weitere uralte Lemuren angeschlurft. Vereinzelt. Mühsam. Nicht nur zum Mithören, sondern um sich in den Klängen vibrierend, bebend, lauschend, phrasierend förmlich zu verlieren und diese Klangvorboten großer Gefühle und tödlicher Katastrophen zu beleben.
    Ein emphatisches Ersatzleben aus der Retorte kitschiger Operninszenierungen? Sentimental oder albern? Alles andere als das: Dank der trockenen Selbstironie stürzen die von genialen Maskenbildnern zu Senioren-Schauspielern deformierten Figuren sich und uns Zuschauer in ein Wechselbad erschreckender, erschütternder und aberwitzig komischer Augenblicke. Sie amüsieren sich selbst kein letztes Mal, sondern Tag für Tag.
    Diese drei Paare sind ein eingespieltes Team und nehmen von Onegins Duell bis zur Scheinhinrichtung Marios, vom Liebestod bis zum Schwanengesang alle existenziellen Grenzsituationen gierig auf. Wie von einer Droge berauscht entdecken sie schmerzhaft beseligt auch ihre eigene Vergangenheit wieder. Mal schwelgen sie, blicken sehnsüchtig und traurig, dann wieder verschmitzt, und verbiegen sich auf ebenso zerbrechliche wie virtuose Weise, wenn sie sich, halb von Rollstühlen gehalten, halb mit ihnen kämpfend, mit nur schwachen Armen und noch schwächeren Beinen um starke Gestik bemühen.
    Dabei sind sie immer noch – eitel, ersichtlich um Wirkung bemüht nach dem Motto: Wie war ich beim Sterben?
    Und natürlich erleben sie jede der erspielten Situationen unterschiedlich und aus verschiedenen Perspektiven. Mal spricht einer einen gesungenen Text mit, während sich andere stumm versunken in Gedanken wiegen. Bisweilen wird einer von seiner Lieblingsstelle mitgerissen und verharrt dann lauschend, mit offenem Mund, auch, wenn die Stimme versagt. Ein anderer muss totgeschossen umsinken - und ängstigt die Mitspieler, weil er auf dem Boden liegend totenähnlich einschläft und gar nicht wieder aufwachen will.
    Übergangslos kann aus dem Lachen eine gespenstische Totengrimasse werden – die sich freilich wieder in befreiendes Gelächter auflöst. Und wenn sie davon sprechen, was sie selbst noch einmal erleben möchten, so sind es kleine banale Dinge, liebenswürdige Verrücktheiten, aus Erinnerungen gespeiste Sehnsüchte, die eines gemeinsam haben: den Blick auf das Wesentliche und ein bewussteres Erleben.
    Schließlich erweisen sich die Opern-Sterbe-Szenen vor der Folie abschreckender Zukunftsvisionen, wie die Todgeweihten sie im Schlussteil sachkundig referieren, als Brücke zum Leben, zur Erlebensfähigkeit.
    Intensiver kann man sich nicht auf die musikalischen Sterbeszenen einlassen als das in Alvis Hermanis' theatralischem Hohelied auf die Oper geschieht: In diesem Warteraum des Todes wird die Zeit angehalten. Und die Neugier auf das Leben, die Faszination des Todes und die Ironisierung der eigenen Gebrechlichkeit, das geradezu kindliche "so-tun-als-ob-die-Krücke-eine- Duell-Pistole-wäre" gehen eine ebenso seltene wie kreative Mischung ein.
    Man schaut nicht nur in das Innere der Opernfiguren, sondern erfährt auch, ohne dass Details der Lebensgeschichten vorkämen, die wahren Gefühle der drei alten Männer und Frauen, die in den Opernpartituren gleichsam gespeichert sind. Und diese Gefühle kommen auch bei den Zuschauern an: ein großer Abend für das Theater – über das Theater.