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Schengen und die Grenzen
Der lange Weg zur Bürger-Freizügigkeit

Am 26. März 1995 öffneten sieben Länder der Europäischen Gemeinschaft ihre Binnengrenzen und schafften die Grenzkontrollen ab. Später kamen weitere Länder hinzu. Dem Schritt vorangegangen waren jahrelange Verhandlungen über wirtschaftliche Ausgleichsmaßnahmen, die innere Sicherheit und das Asylrecht.

Von Andreas Baum | 26.03.2020
    Die Moselbrücke führt von Perl in Deutschland nach Schengen in Luxemburg.
    Es dauerte zehn Jahre, bis das 1985 beschlossene Schengen-Abkommen inkraft trat (dpa / Romain Fellens)
    In Mitteleuropa ist die Nacht zum 26. März 1995 nass und kalt. Seit Null Uhr gilt das "Schengener Durchführungsabkommen"; Autofahrer überqueren die Grenzen sieben europäischer Länder ohne Kontrollen.
    Ganz anders das Bild am deutsch-polnischen Schlagbaum in Görlitz. Hier bilden sich lange Schlangen – eine neue Außengrenze ist entstanden:
    "Es war eine sehr lange Schlange. Ich stand bald die halbe Nacht, und es ist kalt. Bei mir ging die Überprüfung schnell, aber die Schlange geht nur langsam vorwärts."
    Zehn Jahre Verhandlungen
    Tausende von polnischen Pendlern lernen in dieser Nacht die Kehrseite des Schengener Abkommens kennen: Vom ersten Tag an schotten sich die teilnehmenden Länder ab. Die Angst vor grenzüberschreitender Kriminalität ist groß – weshalb Bundesinnenminister Manfred Kanther über die neue Freizügigkeit nie ohne ihre Einschränkung spricht.
    "Das Schengener Abkommen ist ein Freizügigkeitsabkommen im Inneren Westeuropas und ein Sicherheitsabkommen nach außen. Das zweite Bein des Schengener Abkommens ist die Einrichtung eines in der Welt einmaligen Fahndungssystems, die Schaffung eines gemeinsamen Systems der Außengrenzkontrollen. Und deshalb müssen wir immer beides zusammen sehen."
    Das Abkommen ist am Tag seiner Inkraftsetzung bereits zehn Jahre alt. Immer wieder war es seit seiner Unterzeichnung verändert und verschoben worden. 1985 hatten sich zunächst Frankreich, Deutschland und die Benelux-Staaten darauf geeinigt, ihre Binnengrenzen zu öffnen. Portugal und Spanien kamen später hinzu. Auf einem Kontinent des freien Warenverkehrs waren Personenkontrollen ein Anachronismus geworden. In erster Fassung wurde das Abkommen in Schengen unterzeichnet, einem Mosel-Dorf in Luxemburg. Der Ort war vom Außenstaatssekretär des kleinen Landes Robert Goebbels mit Bedacht gewählt worden: Frankreich und Deutschland waren in Sichtweite.
    "Um die Symbolik noch zu erweitern, haben wir auf einem Schiff, das in der Mosel geankert war, unterzeichnet, weil, die Mosel ist ein Kondominium. Das heißt, sie ist ein Hoheitsgewässer Deutschlands, Frankreichs und Luxemburgs.
    Als ich am Ende meiner kleinen Begrüßungsansprache sagte, der Vertrag, den wir jetzt unterzeichnen, wird in die Weltgeschichte eingehen als '‚Schengen-Vertrag', haben alle nur gelacht."
    Ein deutscher Grenzpfahl am Oderufer markiert die Grenze zwischen Deutschland und Polen.
    Viele Politiker hatten 1995 Angst vor der Freizügigkeit ihrer Bürger - besonders vor steigender Kriminalität (picture alliance / JOKER)
    Mauern, Hürden und Bedenken
    In der Tat nahm die Öffentlichkeit den Akt zunächst kaum wahr. Vielen galt Schengen als Anfang eines Europas der zwei Geschwindigkeiten, weil Großbritannien und Irland, Griechenland, Dänemark und Italien zunächst außen vor blieben. Nachdem im November 1989 die Berliner Mauer gefallen war, verhinderte Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in letzter Minute, dass das Abkommen in Kraft trat. Er befürchtete, zwischen der Bundesrepublik und der DDR könnte eine neue Grenze entstehen. Mit der Wiedervereinigung wurde klar, dass die Schengen-Grenze an der Oder verlaufen würde. Nun forderte vor allem Frankreich, sie überall einheitlich zu kontrollieren – denn das Misstrauen unter anderem gegenüber der liberalen Drogenpolitik insbesondere der Niederlande war groß.
    Bald einigte man sich außerdem auf ein Fahndungssystem und darauf, dass Flüchtlinge nur in jenem Schengen-Staat Asyl beantragen konnten, in den sie eingereist waren. Nachdem 1993 schließlich noch das Grundgesetz für Schengen geändert worden war – wer aus einem sicheren Heimatstaat kam, konnte fortan in Deutschland kein Asyl bekommen -, waren so viele Hürden aufgebaut worden, dass es auch konservative Politiker wie Kanzleramtsminister Bernd Schmidbauer für kleinkariert hielten.
    "Da waren lauter so große Europäer in den letzten Jahren. Jetzt zittern die ersten und machen sich vor lauter Schreck auch noch ins Hemd. Der Bürger muss Europa erfahren, der Verbrecher muss erfahren, dass Europa für den Bürger sicherer wird durch diese Maßnahme."
    Einschränkungen gibt es dennoch
    Die Angst der Politiker vor der Freiheit ihrer Bürger ist geblieben – bis heute. Seit 2013 dürfen die Länder wieder zeitlich begrenzt kontrollieren, wenn sie sich in ihrer "nationalen Sicherheit" bedroht sehen. Während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 machten einige davon Gebrauch, Bundesinnenminister Horst Seehofer drohte zuletzt 2018 damit, Grenzen wieder zu schließen.
    "Wir haben Europa und die Freizügigkeit in Europa. Aber diese Freizügigkeit kann nur funktionieren, wenn die Staaten an der Außengrenze Europas die Grenzen auch kontrollieren. Solange dies nicht wirksam erfolgt, müssen wir die Binnengrenzen kontrollieren, und zwar nicht, weil wir Lust am Kontrollieren haben, sondern weil wir die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten müssen."
    Trotz ihrer Gegner und Skeptiker ist das Abkommen ein Erfolg. 26 Länder nehmen bis heute an ihm teil – und Schengen, das kleine Dorf an der Mosel, ist weltberühmt geworden.