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Schicksale afrikanischer Flüchtlinge

Der marokkanische Autor Youssouf Amine Elalamy, geboren 1961, setzt all jenen afrikanischen Flüchtlingen ein literarisches Denkmal, die ihre Hoffnung auf Zukunft mit dem Leben bezahlten. Zwölf verschiedene Figuren, zwölf unterschiedliche Schicksale.

Von Kersten Knipp | 26.02.2009
    Zwölf Tote. Zwölf mal ausgelöschtes Leben, zwölf mal vernichtete Hoffnung. Das Meer hat nicht mitgespielt in dieser Nacht. Es war stürmischer als erwartet, und das Boot war kleiner als es hätte sein dürfen. Mit so einem Gefährt kommt man nicht über das Mittelmeer, es kentert schon nach wenigen Kilometern - aber zu vielen Kilometern, als dass die Insassen sich noch an Land hätten retten können. Sie ertrinken, allesamt. Und sie werden bei dem Dorf Bnidar, irgendwo an der marokkanischen Mittelmeerküste, wieder an Land gespült. Den Lebenden bleibt nichts, als die Toten zu identifizieren. Auch jener älteren Frau nicht, die sich anschleppt von irgendwo, um Gewissheit über das zu bekommen, was sie längst ahnt: auch Louafi, ihr Sohn ist unter den Toten.

    "Louafis Körper ohne Louafi, seine schlaffe Hand auf dem Sand, seine hinter den Algen erloschenen Augen. Wenn er sie doch von dort aus sähe. Wo er jetzt ist, sehen könnte, wie sie zittert in ihrer von der Arbeit unter der Sonne verbrannten Haut, jetzt, wo es nur noch ein paar Schritte sind, bevor sich ihre Augen unwiderruflich auf diese Wörter richten, die während des Marsches vom Gerücht zum Gemurmel, dann zum Echo, zur Gestalt und dann zum Sohn wurden, der in seinem Traum, welcher in ihm brannte, ertrunken und dann vom algengeschmückten Meer wieder ausgespuckt worden ist. ... Da. In Hörweite. Das Meer. Es ist trotzdem da. Das Meer mit seiner nie endenden Musik. Aber wer kann denn die schon hören? Das Meer zieht sich zurück."

    Der marokkanische Autor Youssouf Amine Elalamy, geboren 1961, hat in seinem Roman "Gestrandet" all jenen afrikanischen Flüchtlingen ein literarisches Denkmal gesetzt, die ihre Hoffnung auf Zukunft mit dem Leben bezahlten. Zwölf verschiedene Figuren, zwölf unterschiedliche Schicksale. Die Flucht vor einer starren Tradition. Eine ungewollte Schwangerschaft und die Entehrung, die sie bedeutet. Die Angst vor dem autoritären Staat. Und natürlich die Armut. Elalamy hat ein breites Panorama der Varianten des Unglücks entfaltet. In einer weichen, sehr poetischen Sprache macht er empfänglich für das Schicksal des Einzelnen, gibt den anonymen Toten ein Gesicht, zeigt gerade dem europäischen Leser, welche persönlichen Geschichten sich hinter den Statistiken angeschwemmter Leichen verstecken. Etwa die der jungen Chama. Sie erwartet ein Kind, obwohl sie nicht verheiratet ist. Eine junge, betörend schöne Frau; eine von denen, die, wie selbstverständlich männliche Bewunderung erweckten

    "Du sahst sie an einer Mauer entlanggehen, am helllichten Tag, und auf der Mauer nicht die Spur eines Schattens. Du trautest deinen Augen nicht. Ein anderes Mal betrachtetest du sie, wie sie gerade vor sich hinschritt, ohne je die Augen zu senken. Du warst ihr am Strand und auf dem Strand gefolgt, keine Spur war hinter ihr zu sehen. Ich weiß, dass es schwierig zu erklären ist. Versuch mich zu verstehen. Nicht der kleinste Fußabdruck hinter ihr auf dem Sand. Nicht einer. Unglaublich. Diese Frau schritt dahin, ohne Spuren zu hinterlassen."

    In Deutschland kannte man bislang vor allem einen maghrebinischen Roman, der sich mit der Flüchtlingsproblematik auseinandersetzt: "Verlassen" des marokkanischen Autors Tahar Ben Jalloun. Das mag daran liegen, dass Ben Jalloun bei uns ohnehin der bekannteste marokkanische Autor ist. Gegen seine Prominenz ist nichts einzuwenden. Allerdings verdeckt sie den Blick auf viele andere Autoren aus der Region - Autoren, die einen sehr anspruchsvollen Stil pflegen. Elalamy gehört zu jener gar nicht so kleinen Gruppe maghrebinischer Schriftsteller, die das Programm der westlichen literarischen Moderne sehr genau kennen; die Faulkner, Joyce, Proust gelesen haben und sich der Standards bewusst sind, die diese Autoren gesetzt haben.

    Allerdings kommen sie aus einer Region, die viele westliche Leser immer noch unter den Vorzeichen der Exotik sehen. Wie vollendet viele maghrebinische Schriftsteller ihre Kunst beherrschen, gerät darum zu oft aus dem Blick. Mohamed Choukri, Rached Boudjedra, Driss Chraibi, um nur ein paar zu nennen: Sie alle schreiben Bücher, die auch formal betören, einen Stilwillen haben, den auch Elalamy pflegt. Denn sein Thema, der Tod im Mittelmeer, ist ungeheuer dramatisch. Natürlich nutzt Elalamy diese Dramatik. Aber sein Roman geht nicht darin auf. Er geht auf Distanz, nimmt weitere Wege, erzählt Geschichten und Vorgeschichten.

    Erlebte Rede und innerer Monolog, das sind Stilmittel, um den Protagonisten in die Seele zu schauen, zu erfahren, wie sie die Welt sehen. Und das heißt in diesem Fall auch, wie sehr sie an ihr leiden, wie es sie bedrückt, ihr Leben, ihre Vorstellungen nicht verwirklichen zu können. Man könnte das als engagierte Literatur im schlechten Sinne bezeichnen - wenn sie nicht so geschrieben wäre, wie sie geschrieben ist. Ein melancholischer Ton zieht sich durch das Buch, und er trägt ebenso wie die Geschichte selbst. Und das ist ja die eigentliche Macht der Literatur: dass sie den Leser durch eine Stimmung anrührt, eine Atmosphäre, die direkt der Sprache entspringt. Einer Sprache allerdings, die auch harte Brüche kennt. Etwa dann, wenn der Autor ein Foto vom Strand und den Ertrunkenen beschreibt.

    "Hier zerschneidet der Horizont das Foto in zwei identische Hälften. Auf dem unteren Teil der gewellte Sand und der Schaum, der von den Seite beschienenen Wellen. Auf dem oberen Teil ein mittels polarisierenden Filters tiefblau gemachter Morgenhimmel. Die Anwesenheit der Leichen an diesem Ufer schadet der Komposition. Vom rein ästhetischen Standpunkt aus betrachtet: überflüssig."

    "Lässt sich der Tod überhaupt ästhetisch in Szene setzen? Ja, er lässt sich, Elalamy hat es in seinem Roman bewiesen. Doch das gelingt nur, indem er den Tod, genauer: die Leichen, immer wieder in Großaufnahme zeigt, sie also beschreibt mit all den Wunden, die sie sich bei der Überfahrt und dann während der langen Stunden im Wasser zugezogen haben. Und indem er sie beschreibt, hält Elalamy den Roman ästhetisch im Gleichgewicht. Die deprimierende Szenerie des Fotos, die zynischen Ästheten so sehr stören mag - sie verleiht dem Roman seinen Realismus und bewahrt ihn so davor, zum bloßen Rührstück zu verkommen."