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Schicksalsgemeinschaft zweier "auserwählter" Völker

Für keine europäische Gesellschaft war die jüdische Bevölkerungsgruppe so prägend wie für Polen. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg stellten sie über zehn Prozent der Bevölkerung. Wie sich das Zusammenleben zwischen Polen und Juden im 19. und 20. Jahrhundert gestaltete, beleuchtet der "Fremde als Nachbar".

Von Martin Sander | 08.04.2010
    Um 1800 war Polen von der europäischen Landkarte verschwunden – aufgeteilt von seinen Nachbarn Russland, Preußen und Österreich. Die polnischen Patrioten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts betrachteten es als vorrangiges Ziel, den verlorenen Staat zurückzuerobern – durch Diplomatie, durch bewaffnete Aufstände. Zu dieser Zeit war der Blick der Polen auf die Juden der Blick von Staatenlosen auf ebenso staatenlose Mitbewohner. Daraus erwuchs eine Schicksalsgemeinschaft zweier "auserwählter" Völker, wobei das ältere Israel dem freiheitsdurstigen Polen als Vorbild dienen sollte. So jedenfalls sah es 1845 der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz. Mickiewicz forderte:

    Dass wir uns mit der Trauer Israels verbinden, das, wo immer es auch ist auf Erden, heute die Zerstörung von Jerusalem beklagt. Wir Polen sollten ein Ähnliches Gefühl in uns erwecken, wir sollten an das Gemetzel und die Einnahme von Warschau (durch die Russen) denken. Seien wir demütig vor dem Geist Israels, das sich 1800 Jahre lang einen so lebendigen Schmerz bewahren konnte, als wäre das Unglück gestern eingetreten.
    Mickiewiczs Emphase wurde von vielen Zeitgenossen geteilt. Man beschwor eine polnisch-jüdische Gemeinschaft und hob dabei gern die goldenen Zeiten von König Kasimir hervor, der die in Deutschland verfolgten Juden im späten Mittelalter nach Polen eingeladen und mit manchen Privilegien versehen hatte. Gleichwohl setzte Mitte des 19. Jahrhunderts auch ein Prozess der Entfremdung ein. Die Anzeichen einer modernen, rassisch begründeten, von Verschwörungstheorien unterfütterten Judenfeindschaft mehren sich. 1859 eskalieren sie in einer Affäre, die als "Jüdischer Krieg" in die Annalen der Stadt Warschau einging. Der Anlass war denkbar belanglos. Ein Musikkritiker namens Józef Kenig empörte sich in einer bedeutenden Tageszeitung der polnischen Metropole darüber, dass das Konzert einer vielversprechenden, aber noch wenig bekannten Musikvirtuosin kaum Besucher fand. Seine Erklärung lautete:

    Ihr fehlten die Adlernase, die dunkle Gesichtsfarbe, die schwarzen Haare und andere Züge des nichtarischen Geschlechts; sie spricht kein rollendes r, ihr Name endet nicht auf berg, blatt, kranc, stern oder Ähnliches. Ihr fehlt es also an Gründen für die Unterstützung durch jenen geheimnisvollen Bund, der sich über ganz Europa und vor allem über uns gelegt hat. Seine Mitglieder helfen und unterstützen sich gegenseitig, seien sie Bankier, Tenor, Spekulant oder Geiger. Dieser Bund nutzt alle Mittel: Reklame, Applaus, Geschrei und sogar Geld.
    Der Protest einiger Warschauer Juden gegen Kenigs Darstellung führte zu einer Welle nationalpolnischer Proteste. Immer mehr christliche Polen nahmen die Integration der Juden in die Eliten der Gesellschaft als Konkurrenz und Bedrohung wahr – ähnlich wie in Deutschland und in anderen europäischen Gesellschaften jener Zeit. Roman Dmowski, der Vordenker der polnischen Nationaldemokraten und zwischen den Weltkriegen einer der einflussreichsten Politiker, zog seit Ende des 19. Jahrhunderts in denkbar radikaler Weise gegen die jüdische Bevölkerung zu Felde und äußerte bereits 1903 in seinen "Gedanken eines modernen Polen":

    Sie haben eine allzu deutliche, durch lange Jahrhunderte des zivilisierten Lebens herauskristallisierte Individualität, als dass sie sich in größerer Zahl von einer so jungen Nation wie der unseren, die erst ihren Charakter ausbildet, anpassen ließen; vielmehr wären sie fähig, unsere Mehrheit geistig, teilweise aber auch physisch zu assimilieren.
    Das Maß dafür, dass wir im Recht sind, dass wir moralisch handeln, kann für uns nicht die Meinung Fremder sein, sondern unserer eigener moralischer Sinn und unser gesunder nationaler Instinkt, das Gefühl der eigenen Bedürfnisse und der eigenen geschichtlichen Aufgaben.

    In den letzten Jahren der polnischen Zwischenkriegsrepublik, insbesondere nach dem Tod des Staatsgründers und zeitweiligen Diktators Józef Piłsudski, der – wenn auch mit vielen Widersprüchen – dem Modell eines Vielvölkerstaats anhing, erhob man Dmowskis Auffassungen zur Staatsdoktrin. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gab es – abgesehen von den illegal agierenden Kommunisten – kaum eine politische Partei, die sich nicht für eine massenhafte Auswanderung der jüdischen Bevölkerung aus Polen aussprach. Doch die deutsche Besatzung und der nationalsozialistische Judenmord auf polnischem Boden veränderten die Einstellung vieler Polen, die im Untergrund kämpften, radikal. Bezeichnend dafür ist die Haltung der von Hause aus katholischen und den Juden bis dahin keineswegs wohlgesonnenen Schriftstellerin Zofia Kossak-Szczucka. Sie wurde zur Mitbegründerin des "Judenhilfsrats" und konstatierte 1942:

    Es lohnt sich nicht, in einem Augenblick über die Fehler unserer Judenpolitik zu sprechen, wo der Gegenstand zu existieren aufhört und das Problem ein anderes Aussehen gewinnt.
    Brennend aktuell ist dagegen das Problem der Demoralisierung und Verwilderung, wozu die Judenmassaker unter uns führen. Denn für diese ungeheuerlichen Exekutionen werden nicht allein Litauische Schützen, Volksdeutsche oder Ukrainer eingesetzt. In vielen Ortschaften nahm die örtliche Bevölkerung freiwillig an den Massakern teil. Einer ähnlichen Schande muss man mit allen verfügbaren Mitteln entgegenwirken: die Menschen darüber aufklären, dass sie sich zu Schergen des Herodes machen, sie in der Untergrundpresse brandmarken, zum Boykott der Henker aufrufen, drohen und den Mördern ein strenges Gericht der freien Republik ankündigen.

    Die chronologisch geordneten sieben Hauptkapitel des Bandes hat der Herausgeber jeweils mit einer historischen Einleitung versehen. Kapitel sechs und sieben behandeln die Zeit nach 1945. Einerseits schürt das kommunistische Regime, wo es ihm von Nutzen ist, antijüdische Emotionen der Bevölkerung bis hin zum Pogrom. Auf der anderen Seite kämpfen liberale Katholiken im Inland sowie zahlreiche Exilautoren gegen das in Polen tief verwurzelte Stereotyp vom jüdischen Kommunismus an. Nach der Wende fallen alle Tabus. Nun beginnt eine bis heute nicht abgeklungene Kontroverse über Formen und Ausmaß des polnischen Antisemitismus einschließlich einer partiellen, wenn auch untergeordneten Mitverantwortung für den Holocaust. Offen formulierte Judenfeindlichkeit gewinnt, wie es der Herausgeber erklärt, in den 90er-Jahren als Teil einer konservativ-nationalistischen Weltsicht an Boden. Dem steht eine Vielzahl von liberalen Positionen gegenüber - und vielleicht noch bedeutender: Es entsteht zum ersten Mal in breiteren Kreisen der Gesellschaft so etwas wie unvoreingenommene Neugier auf die polnisch-jüdischen Geschichte in allen ihren Facetten.

    "Der Fremde als Nachbar" bietet mit seinen zum größten Teil zum ersten Mal ins Deutsche übersetzten Texten ein solides, ganz der Aufklärung verpflichtetes Fundament für die Beschäftigung mit einem zentralen Kapitel europäischer Geschichte und Gegenwart. Dem Herausgeber ist es gelungen, in jedem historischen Abschnitt gegensätzliche, sich nicht selten dramatisch widersprechende Positionen zu vereinen. "Der Fremde als Nachbar" ist ein Sammelband, dessen Dramaturgie Hochspannung birgt.