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Schillernde Zeitgeschichte

Der Berliner Journalist und Kolumnist Harald Martenstein, geboren 1953, räumt in seinem Debütroman "Heimweg" seinem Geburtsjahrzehnt jenen Platz in der Literaturgeschichte ein, den es zweifellos verdient hat. Viele seiner Figuren und etliche der obskuren Nebengeschichten des Buches entstammen der Martensteinschen "Familienmythologie", wie er es nennt. "Heimweg" ist ein schillerndes zeitgeschichtliches Panorama, getragen von mehr oder minder exzentrischen Figuren.

Von Florian Felix Weyh | 21.06.2007
    Belletristen lieben bestimmte Epoche. Zeiten, in denen auf der Straße und in den Köpfen Bewegung herrscht, bilden sich in der Literatur sehr viel rascher und umfangreicher ab als Jahrzehnte im scheinbar geschichtstoten Raum. Die deutschen Fünfziger, in der Mitte eingezwängt zwischen den Umbrüchen 1945 und 1968, gehörten lange zu diesem geschichts- und geschichtentoten Raum. Ein bleiernes Vorurteil verbot, sie zum Schauplatz von Romanen zu machen:

    " Natürlich ist das eine spießige und enge Zeit gewesen. Aber es ist auch eine Zeit gewesen, in der nicht alle Gewinner waren, wie das so in der üblichen 50er-Jahre-Mythologie des Aufstiegs und des Wirtschaftswunders beschrieben wird, eine Zeit, in der es natürlich auch deswegen so still war, weil dieser Urknall 33/45 nachhallte. Da waren die Ohren irgendwie betäubt und man hörte nichts mehr und sprach nichts mehr. "

    Diesem Urknall ist der Berliner Journalist und bekannte Kolumnist Harald Martenstein, geboren 1953, selbst nicht mehr ausgesetzt gewesen. In seinem Debütroman "Heimweg" muss er sich also weder dem Komment des Literaturbetriebs beugen, noch die Tabus seiner Eltern und Großeltern beherzigen, sondern darf seinem Geburtsjahrzehnt jenen Platz in der Literaturgeschichte einräumen, den es zweifellos verdient hat. Denn geschichtentot war die Epoche wahrlich nicht. Im Gegenteil, für handelnde Figuren hielt sie bereit, was spätere Nachkriegsjahrzehnte eher missen lassen: Fallhöhe.

    " 1950 trifft eine gedemütigte und geschlagene Generation von Männern, die ohne Ehre und ohne Sieg aus dem Krieg zurückkehrt - klassische Situation seit der Antike: Ehre verloren, Krieg verloren, gedemütigt - trifft auf Frauen, die alleine gewesen sind, auf eigenen Füßen standen, Liebhaber gehabt haben, gearbeitet haben, all das, was sie nach der Nazi-Ideologie eigentlich nicht durften, aber die Notwendigkeiten des Krieges haben es halt erfordert. Und was sie eigentlich auch nach der Adenauer-Ideologie nicht gedurft hätten. Aber diese Frauen waren eben so, die waren stärker geworden. Und die treffen nun auf diese heimkehrenden Männer. Die Verlierer. "

    Joseph ist so ein Verlierer, gleich im doppelten Sinne. Als er 1950 aus sowjetischer Gefangenschaft militärisch geschlagen heimkehrt, trifft er seine Frau blutend am Boden liegend an. Nicht nur ein, sondern gleich zwei französische Besatzungssoldaten streiten zu diesem Zeitpunkt um deren Gunst. Kein Wunder, denn die attraktive Katharina war schon vor der Eheschließung mit Joseph Tänzerin gewesen und arbeitete nun in einem eher zwielichtigen Milieu:

    " Ich bin ja am Bahnhofsplatz, am Mainzer Bahnhofsplatz aufgewachsen. Und das ist damals auch schon so eine etwas anrüchige und mit Halbwelt behaftete Gegend gewesen, wo es Nachtclubs und Stripteaselokale und Bordelle und so was gegeben hat. Das alles natürlich so auf Mainzer Level. Man darf sich das jetzt nicht zu groß vorstellen. Aber das war dann so eine Kindheitserinnerung, dass ich da an sonderbar angezogenen Damen vorbeiging und als Kind überhaupt nicht verstanden habe, warum die andere Klamotten anhatten als meine Lehrerin in der Schule, und zwar völlig andere, "

    erzählt Harald Martenstein freimütig, denn zu Verschleierungen des autobiographischen Textgehalts neigt der Journalist nicht. Viele seiner Figuren und etliche der obskuren Nebengeschichten des Buches entstammen der Martensteinschen "Familienmythologie", wie er es nennt, in der es eine Großmutter wie die Tänzerin Katharina gegeben hat und einen Großvater wie Joseph, der im Krieg einen sowjetischen Kommissar hinrichtete - auf höheren Befehl, versteht sich - und in den 50er-Jahren als biederer Bankbote sein Auskommen fand. "Heimweg" ist ein schillerndes zeitgeschichtliches Panorama, getragen von mehr oder minder exzentrischen Figuren, kein stringenter Handlungsroman. Im nie ausdrücklich erwähnten Mainz scheint der Krieg weit zurück zu liegen, die güldene Zukunft dagegen nahe zu sein. "Das Land bestand nur aus Zukunft, es hatte nichts anderes", sagt der namenlose Ich-Erzähler. "Weil aber jedes Wirtschaftssystem zu großen Teilen auf dem Glauben an die Zukunft beruht, muss ein Land ohne Vergangenheit das erfolgreichste aller Länder werden." Instinktiv sieht es auch Rosalie so, die Schwester Katharinas, die in der von beiden gemeinsam betriebenen Bar den Prokuristen Fritz kennen lernt. Fritz besitzt zwar nur noch ein Bein, aber er verdient gut, glänzt durch ausgezeichnete Manieren und zeigt einen Zug zu Höherem. Rosalie verkauft die Bar, heiratet Fritz ... und Autor Martenstein könnte, läge nur dieses Indiz vor, der Glorifizierung seiner Kindheitsjahre verdächtig sein. Alles wird gut, der Aufschwung tilgt die Flecken der Vergangenheit.

    " Es ist natürlich eine Verteidigung der Kindheit, auch, und es ist ein Versuch, eine Versöhnung zu stiften, könnte man sagen, zwischen der 68er-Generation, der ich nicht mehr angehöre, weil ich zu jung dafür bin, und der Generation davor. Die betrachte ich halt beide aus einer gewissen Distanz, weil ich zu keiner so richtig gehöre, und der Motor ist bei mir ganz einfach ein innerer (...) Konflikt gewesen - daraus entstehen ja oft Bücher, wahrscheinlich die meisten - ein innerer Konflikt zwischen einer Liebe oder Zuneigung zu Leuten aus der Eltern und Großelterngeneration, diese ganz normale Elternliebe, die die meisten halt einfach haben, und dem Beginn meiner politischen Biographie, die (....) mit dem Erschrecken über den 2. Weltkrieg und über die deutschen Verbrechen angefangen hat. Das habe ich nicht zusammengebracht. "

    Nun aber bringt Martenstein in seinem Buch noch viel mehr zusammen und entgeht damit der Kuschelfalle üblicher Kindheitsprosa. Zum einen, weil die Glücksverheißungen nicht lange halten. Prokurist Fritz etwa ist spielsüchtig und ruiniert mit Unterschlagungen seine bürgerliche Existenz. Zum zweiten, weil sich das Erzähler-Ich zuletzt als ungeboren gebliebenes Kind von Joseph und Katharina entpuppt, mithin als reines Hirngespinst:

    " Ich dachte auch, wenn ich mit einer Ich-Erzählerfigur beginne, dann denken die Leute: "Ah, ja, das Ich kennen wir ja, das ist das Ich" ... viele lesen ja diese Kolumne, die ich für die ZEIT schreibe und denken: "Das isser ja, na den kennen wir, das ist dieses Ich." Die Erwartung zu bedienen, das hätte mich nicht befriedigt. Das wär mir zu einfach vorgekommen, und deswegen muss es ein ganz anderes Ich sein. "

    Drittens umfasst sein Panorama mehrere Generationen vor diesem virtuellen Ich-Erzähler, ja geht mit dem bayrischen Räuber Michael Heigl sogar bist tief ins 19. Jahrhundert zurück.

    " Dieser Räuber ist tatsächlich eine Figur aus unserer Familienmythologie. Angeblich stammen wir tatsächlich von diesem legendären bayrischen Räuber ab. Aber ich fand den nicht deswegen interessant für diesen Roman, sondern deswegen weil er so eine andere Facette der Liebe und eine andere Facette des Deutschseins repräsentiert. "

    Liebe, Tod und Vaterland bilden die drei Stränge des mitunter seltsamen Romans von Harald Martenstein. Denn zwischen Joseph und dessen Urururgroßvater Heigl fügt sich eine weitere wichtige Figur ein: Alfons, der Bierbrauer, der vom Wahnsinn gepackt seinen eigenen Sohn umbringt - Josephs älteren Bruder-, dann aber mit der Frau, deren Kind er brutal ermordete, erneut Nachwuchs zeugt.

    " Das gehört zu den wahren Anteilen dieses Romans. Ich hatte tatsächlich diesen Urgroßvater, der aus Wahnsinn das Kind umgebracht hat und dessen Frau dann später tatsächlich noch mal ein Kind von ihm bekommen hat. Er bekam dann wirklich Urlaub von seiner Klinik, und dann wurde sie wieder schwanger. "

    "Magischer Realismus" wäre wohl die beste Genrebezeichnung für Harald Martensteins literarisches Debüt. Tote reden darin mit Lebenden, Fernsehstars sitzen am Tisch der allmählich geistig verlöschenden Katharina, und der gleichsam "superauktoriale" Erzähler im Kopfe Josephs erhebt sich ohnehin über alle Zeiten und Räume. Diese Sprünge machen den Text sperrig für solche Leser, die vom Kolumnisten Martenstein anderes, ja Leichteres erwarten mögen:

    " Ich hab natürlich ein bisschen spielen wollen. Und ein bisschen mit Erwartungen zu spielen, Erwartungen zu unterlaufen, das ist etwas, woran ich mich bei dem Kolumnenschreiben gewöhnt hab. Das mache ich eigentlich auch gerne so, dass ich mit einem bestimmten Thema scheinbar beginne oder von einem bestimmten Thema scheinbar handle, und es gibt dann ein zweites, das zwischen den Zeilen, sagt man gerne, oder subkutan da so läuft. "

    "Heimweg" führt heim in eine deutsche Literatur, die bei den Gebrüdern Grimm beginnt und bei E.T.A Hoffmann lange nicht endet: schwarze Romantik aus Mainz am Rhein, ein bisschen verspielt, ein bisschen gespenstisch, doch nie um einen pointierten Satz verlegen. Da bleibt sich Harald Martenstein treu und zieht auch diejenigen Leser in seinen Bann, die auf weniger groteske Familienverhältnisse blicken. Wenn man keine Bücher schreiben will, ist es vermutlich viel angenehmer, nicht allzu viele dämonische Ahnen zu besitzen.

    Harald Martenstein: "Heimweg"
    C. Bertelsmann, 220 Seiten