Samstag, 20. April 2024

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Schlacht im Ersten Weltkrieg
"Mythos von Verdun hat sich enorm geändert"

Sie ging als das längste, tödlichste Gefecht des Ersten Weltkriegs in die Geschichte ein: Die Schlacht von Verdun mit mehr als 300.000 Toten, heute vor 100 Jahren. Auch in Frankreich sei Verdun heute mehr ein Symbol für die Sinnlosigkeit des Massentodes als für nationalen Heroismus, sagte der Historiker Gerd Krumeich im DLF.

Gerd Krumeich im Gespräch mit Martin Zagatta | 20.02.2016
    Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die ostfranzösische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben (Archivfoto von 1916). Bei der Schlacht um Verdun sind von Februar bis Dezember 1916 rund 700.000 Menschen umgekommen. Ausgelöst durch die tödlichen Schüsse auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand durch serbische Nationalisten am 28. Juni 1914 in Sarajevo brach im August 1914 der große Krieg (später als 1. Weltkrieg bezeichnet) aus. Es kämpften die Mittelmächte, bestehend aus Deutschland, Österreich-Ungarn sowie später auch das Osmanische Reich (Türkei) und Bulgarien gegen die Tripelentente, bestehend aus Großbritannien, Frankreich und Russland sowie zahlreichen Bündnispartnern. Die traurige Bilanz des mit der Niederlage der Mittelmächte 1918 beendeten Weltkriegs: rund 8,5 Millionen Gefallene, über 21 Millionen Verwundete und fast 8 Millionen Kriegsgefangene und Vermisste.
    Schlacht um Verdun: Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die ostfranzösische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben (Archivfoto von 1916). (picture alliance / AFP)
    "Verdun war die erste industrialisierte Großschlacht", sagte Historiker Krumeich. Die Armeen hätten die schwersten Geschütze aufgefahren. Dabei seien die Soldaten "auf Tuchfühlung" gewesen und der Artillerie schutzlos ausgesetzt, ihre Stellungen in Sichtweite, maximal 50 Meter voneinander entfernt. Die Franzosen hätten die Schlacht gewonnen, indem sie einen Durchbruch der Deutschen verhinderten.
    Der Mythos von Verdun habe sich in den vergangenen Jahrzehnten enorm geändert, sagte der Historiker. Die Generationen, die den Krieg miterlebt haben oder ihn aus Erzählungen von Überlebenden kennen, seien mittlerweile weitestgehend verschwunden. "Auch in Frankreich ist Verdun heute vor allem ein Sinnbild für die Sinnlosigkeit und Entsetzlichkeit des Massentodes - stärker als ein Symbol für den nationalen Heroismus." Dieser Eindruck manifestiere sich an der Gedenkstätte: Sie sei der "Inbegriff einer französischen, stolzen und auch etwas tragischen Erinnerung" und werde in diesem Jahr zu einem "Mémorial franco-allemand" umgewidmet. "Das wäre vor zehn Jahren noch völlig undenkbar gewesen."

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Nun in die Hölle, zur Hölle von Verdun, wie die erbitterte Schlacht des Ersten Weltkriegs genannt wird. Genau 100 Jahre ist es an diesem Wochenende nämlich nun her, dass die Gefechte in Lotringen nahe der Maas begonnen haben. Die längste Schlacht des Ersten Weltkriegs zwischen der deutschen und der französischen Armee. Eine Schlacht, die mehr als 300.000 Tote gefordert hat mit einem unvorstellbaren Artilleriefeuer, mit dem Einsatz von Giftgas und brutalen Nahkämpfen. Professor Gerd Krumeich ist Historiker und einer der führenden Experten für den Ersten Weltkrieg. Mit einem französischen Kollegen hat er das Buch "Verdun 1916: Die Schlacht und ihr Mythos aus deutsch-französischer Sicht" geschrieben. Guten Morgen, Herr Krumeich!
    Gerd Krumeich: Guten Morgen, Herr Zagatta!
    Zagatta: Herr Krumeich, im Gegensatz zu Stalingrad im Zweiten Weltkrieg hat es in Verdun keinen richtigen Sieger gegeben, war diese Schlacht 1916 auch keine Wende oder nicht kriegsentscheidend. Warum ist Verdun, warum ist diese Schlacht zu einem solchen Mythos geworden?
    Krumeich: Verdun war die erste industrialisierte Großschlacht. Das muss man sagen. Sie haben es eben in Ihrer Einleitung schon völlig richtig gesagt: Es war eine industrialisierte Großschlacht unter allem Einsatz, der damals zur Verfügung stehenden technischen Mittel, der modernsten Mittel, aber es war gleichzeitig auch archaischer Nahkampf. Das macht den Unterschied zu den anderen großen Schlachten aus. Ein halbes Jahr später an der Somme, da wird noch mehr gestorben als vor Verdun, wenn man so sagen darf, aber es ist eben doch ein leeres Schlachtfeld, es ist Fernbeschuss, es ist anders als in Verdun. In Verdun sind die schwersten Geschütze in Arbeit und die Soldaten ihnen quasi schutzlos ausgeliefert, und sie sind auf Tuchfühlung. Die Franzosen und Deutschen haben ihre Stellungen manchmal nur 20, 30, maximal 50 Meter voneinander entfernt, die können sich sehen. Es ist ein fürchterliches Geringe.
    Zagatta: Warum, wenn diese Schlacht so fürchterlich war, warum hat sie dann so lange gedauert? Das waren ja zehn Monate etwa, glaube ich.
    "Die Franzosen haben … insofern gewonnen, als sie eben den deutschen Durchbruch verhindert haben"
    Krumeich: Sie hat verschiedene Intensitäten. Am Anfang eine große Intensität, dann wird es eben dieses Ringen um jeden Meter, und ab Mitte Juni hört es für die Deutschen insofern auf, oder wird viel weniger, als sie einen guten Teil ihrer Truppen abziehen müssen an die Somme, wo die große britisch-französische Offensive vorbereitet wird. Aber in Verdun wird blutig weitergekämpft, bis zum Dezember, und dann sind die Deutschen wieder auf die Ausgangsposition zurückgedrängt. Für die Franzosen hört die Schlacht auch erst mit dem 19. Dezember auf, wohingegen auf der deutschen Seite eigentlich immer ab Juli keine Rede mehr von Verdun ist.
    Zagatta: Es hat auch keinen richtigen Geländegewinn gegeben, wenn ich das richtig nachlese. Wer hat diese Schlacht gewonnen oder gab es da nur Verlierer?
    Krumeich: Für mich ist es eindeutig: Die Franzosen haben sie insofern gewonnen, als sie eben den deutschen Durchbruch verhindert haben. On ne passe pas: Die kommen hier nicht durch – das ist der Satz, der damals geprägt worden ist und an den sich die Franzosen auch heute noch erinnern. Hier haben wir alles aufgestellt und alles aufgebaut, die gesamte Nation hat hier ihre jungen Männer hingeworfen, um eben den Durchbruch der Deutschen zu verhindern. Das ist gelungen, von daher hat man gewonnen.
    Zagatta: In Deutschland wird Verdun vor allem als Symbol, heute zumindest, für die Sinnlosigkeit von einem Krieg gesehen. Gibt es da nach wie vor, jetzt auch 100 Jahre später, in Frankreich und in Deutschland noch eine völlig andere Sicht auf diese Schlacht oder gleicht sich das langsam an?
    Krumeich: Das ist das Interessante: Es hat sich sehr angeglichen. Mehr angeglichen als ich das auch noch vor zehn Jahren vermutet hätte. Ich beobachte den Verdun-Mythos und bin oft mit meinen Studierenden hingefahren, solange ich noch aktiv war, seit 30 Jahren, und es hat sich enorm geändert. Heute leben die Poilus, die Soldaten nicht mehr, und ihre Kinder und die nächste Generation ist auch weitestgehend verschwunden, und von daher hat sich das Gedenken in Frankreich auch massiv geändert. Auch in Frankreich ist Verdun heute vor allem ein Sinnbild für die Sinnlosigkeit und für die Entsetzlichkeit des Massentodes, stärker als ein Symbol für den nationalen Heroismus. Das hat sich enorm geändert. Sehen Sie, für mich der prägnanteste Unterschied ist, dass das Memorial de Verdun, also das Memorial, das die Soldaten aufgebaut haben, die Gedenkstätte auf dem Schlachtfeld selber bei Fleury, das war der Inbegriff einer französischen stolzen und auch etwas tragischen Erinnerung. Das wird dieses Jahr zum Memorial franco-allemand umfunktioniert. Es ist neu aufgebaut worden, sehr vergrößert worden, und es will versuchen, die deutsche und die französische Geschichte dieser Schlacht gemeinsam zu erzählen, und das wäre vor zehn Jahren noch vollständig undenkbar gewesen.
    "Es gibt gar nicht so viele französische Historiker, die auf Verdun spezialisiert sind"
    Zagatta: Was war da der Wendepunkt? Weil Verdun steht mit dem Händehalten damals von Helmut Kohl und Francois Mitterrand auch ganz symbolhaft für die deutsch-französische Aussöhnung. Das hat nicht so viel bewirkt.
    Krumeich: Das ist ein sehr schönes Bild geworden. Emblematisch, wie man sagt, also sehr hochsymbolisch für eine solche Situation. Es ist ein stummer Händedruck, sie schauen auf die Gräber, da fällt kein Wort, da gibt es nichts zu sagen. Ich bin mal gespannt dieses Jahr, ob es Frau Merkel und Herr Hollande, wenn sie am 29. Mai das Memorial, das neue, gemeinsam eröffnen – das auch schon wieder ein großer symbolischer Akt ist –, ob ihnen ein neuer Gestus einfällt. Das ist nicht leicht zu übertreffen, aber vielleicht – was mir aufgefallen ist an der Begegnung Kohl-Mitterrand ist das stumme Verhalten –, vielleicht findet sie heute ein Thema, über das sie sprechen können dabei.
    Zagatta: Aber Sie haben uns vorhin gesagt oder gerade gesagt, vor zehn Jahren wäre eine solche gemeinsame Bewertung, wie wir sie jetzt erleben, noch nicht möglich gewesen, also dieses Treffen damals oder dieses Händehalten von Helmut Kohl und Francois Mitterrand hat noch nicht das große Umdenken bewirkt. Wie ist denn jetzt zu dieser Annäherung da gekommen zwischen deutschen und französischen Historikern vielleicht auch?
    Krumeich: Das hat es selbstverständlich gegeben. Es gibt gar nicht so viele französische Historiker, die auf Verdun spezialisiert sind. Antoine Prost, mit dem ich das Buch zusammen geschrieben habe, ist einer der wenigen wirklichen Verdun-Experten. Es hat sich viel verändert. Die Frage ist aber gut, denn auf der einen Seite bleibt dieser Händedruck unüberschreitbar, auf der anderen Seite war vor noch zehn Jahren, als die Kindergeneration der Soldaten von Verdun aktiv war und die Schaltstellen der Erinnerung von Verdun besetzte, wäre eine solche Aktivität nicht möglich gewesen, ein solches Gemeinsames. Was hat das noch für Proteste gegeben 2009, das war ein weiterer sehr großer Moment, als mit der Europafahne auch die deutsche Fahne auf dem Douaumont aufgezogen worden ist auf der Festung, auf der emblematischen Festung von Verdun. Seit 2009 im November weht da die deutsche Fahne auch mit der europäischen. Die ist immer wieder runtergezogen worden, da hat es massive Proteste gegeben, aber das ist in den letzten Jahren verstummt.
    Zagatta: Der Historiker Professor Gerd Krumeich über die Schlacht von Verdun, die heute oder an diesem Wochenende vor 100 Jahren begonnen hat, und ihre Bedeutung bis heute. Herr Krumeich, ich bedanke mich ganz herzlich für dieses Gespräch!
    Krumeich: Ich bedanke mich auch sehr herzlich für das Gespräch! Hat auch gar nicht weh getan!
    Zagatta: Na prima, dann freuen wir uns! Vielen Dank! Herzlichen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.