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Schlacht um Moskau vor 75 Jahren
"Aus dem Blitzkrieg wurde nichts"

Heute jährt sich der Beginn des Rückzugs der deutschen Wehrmacht bei der Schlacht um Moskau zum 75. Mal. Der Russland-Feldzug sei von Anfang an eine "riesige Illusion" gewesen, sagte der Militärhistoriker Wolfram Wette im DLF. Man könne durchaus von einem Wendepunkt in der deutschen Geschichte sprechen. Wichtig sei, die Erinnerung an die damaligen Ereignisse am Leben zu erhalten.

Wolfram Wette im Gespräch mit Benedikt Schulz | 15.01.2017
    Ein Panzerfahrzeug der Wehrmacht, gefolgt von Soldaten auf Motorrädern, in der Stadt Minsk während des Rußland-Feldzuges im August 1941.
    Ein Panzerfahrzeug der Wehrmacht, gefolgt von Soldaten auf Motorrädern, in der Stadt Minsk während des Rußland-Feldzuges im August 1941. (picture-alliance / dpa / UPI)
    Benedikt Schulz: Ab wann kann man von einem Wendepunkt sprechen? Die Geschichtsschreibung von Kriegen im Allgemeinen und des Zweiten Weltkriegs im Speziellen kennt viele sogenannte Wendepunkte –offenbar gibt es einen Bedarf nach solchen Erzählmustern historischer Erklärungen.
    Heute jährt sich der Beginn des Rückzugs der deutschen Wehrmacht, bei der Schlacht um Moskau, und zwar zum 75. Mal. Und die Schlacht ist einer der entscheidenden Momente des Zweiten Weltkrieges, als Teil der Operation Unternehmen Taifun wollte Hitler zum einen große Teile der sowjetischen Streitkräfte zerstören und anschließend die russische Hauptstadt Moskau selbst. Und obwohl es anfangs danach aussah, dass das Ziel erreicht werden könnte, führte die sowjetische Gegenoffensive ab Anfang Dezember letztlich zum Rückzug der deutschen Truppen.
    Kann man hier von einem Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges sprechen, einem Point of no Return?
    Wolfram Wette ist Militärhistoriker und Vertreter der historischen Friedensforschung, ich habe ihn gefragt: Welche Bedeutung hatte der Rückzug der deutschen Wehrmacht für den Verlauf des Zweiten Weltkriegs?
    Wolfram Wette: Der Russland-Krieg war von Hitler und seiner Generalität geplant als ein weiterer Blitzkrieg. Man hatte die Vorstellung, innerhalb weniger Wochen die Rote Armee überrennen zu können und den angestrebten Lebensraum im Osten erobern zu können. Das hat sich als eine riesige Illusion erwiesen, wie zuvor schon mal bei einem gewissen Napoleon, der die weiten Strecken nach Moskau ebenfalls massiv unterschätzt hatte.
    Aus dem Blitzkrieg wurde nichts, sondern die Heeresgruppe Mitte der deutschen Wehrmacht blieb vor Moskau stecken und alle Beteiligten mussten einsehen, dass es mit dem weiteren Vormarsch nichts würde, denn die Soldaten der deutschen Wehrmacht waren dazu in vieler Hinsicht nicht ausgestattet. Auch hat es mit dem Nachschub nicht geklappt. Eine große Illusion brach im Dezember 1941 vor Moskau zusammen.
    "Wendepunkte waren das allemal"
    Schulz: Kann man dann trotzdem überhaupt von einem Wendepunkt am 15. Januar 1942 sprechen?
    Wette: Sprechen kann man über alles. Aber wenn man mal ein bisschen tiefer eindringt in die Materie, muss man sich ja fragen, gab es an dem Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 überhaupt eine realistische Chance, diesen Blitzkrieg gegen das große Land zu gewinnen. Dann kommen einem doch große Zweifel. Und vielfach ist ja gesagt worden, dass eigentlich die Schlacht von Stalingrad den großen Wendepunkt gebracht hat. Wendepunkte in gewissem Sinne waren das allemal, aber der entscheidende Punkt scheint mir zu sein, dass dieser ganze Krieg von vornherein auch rein militärisch betrachtet zum Scheitern verurteilt war.
    "Die Stärke der Roten Armee wurde so sichtbar wie nie zuvor"
    Schulz: Sie haben Stalingrad gerade selber angesprochen. Unter Historikern gilt Stalingrad jetzt nicht mehr als der Wendepunkt des Russland-Feldzuges, und das schon seit Jahrzehnten. Aber im öffentlichen Bewusstsein überlagert die Erinnerung an Stalingrad trotzdem doch sehr vieles. Warum ist das so?
    Wette: Das ist richtig. In Stalingrad, erinnern wir uns, ist eine ganze deutsche Armee, die Nazis haben gesagt, untergegangen. Man hat sie in eine Lage dort gebracht, aus der sie nicht mehr herauskamen. Nach und nach wurde den Deutschen klar, dass hier nicht nur eine kleine Schlacht verloren gegangen ist, sondern dass hier die Rote Armee der deutschen Wehrmacht gezeigt hatte, wo es nicht mehr weitergeht. Die Stärke der Roten Armee wurde so sichtbar wie nie zuvor. Aber auch die Vorstellung, dass, wenn die Schlacht von Stalingrad anders ausgegangen wäre, die Deutschen vielleicht doch noch den Krieg gewonnen hätten, ist ja völlig illusionär. Das war auch nur eine weitere Etappe auf dem Weg zu der Einsicht, dass das deutsche Reich einen Krieg gegen die große Sowjetunion nicht gewinnen konnte.
    "Ich habe nichts gegen diese Vokabel"
    Schulz: Dann lassen Sie uns doch mal über das Problem Wendepunkt mal grundsätzlich sprechen. Ist aus Sicht des Historikers diese Kategorie Wende als, ich nenne es jetzt mal, narratives Muster einer historischen Erzählung dann nicht per se auch problematisch?
    Wette: Wissen Sie, wenn wir mal die deutsche Geschichte betrachteten im Hinblick auf ihre Revolutionen und andere große Einschnitte, so sprechen ja wichtige Bücher von Wendepunkten in der deutschen Geschichte. Und ich würde sagen, das sortiert doch eine ganze Menge. Wenn man sagt, etwa die November-Revolution 1918 in Deutschland hat den autoritären Staat deutsches Kaiserreich abgelöst und es ist der erste Versuch gemacht worden, eine Republik auf deutschem Boden zu installieren, dann war der November 1918 natürlich ein Wendepunkt. Insoweit habe ich nichts gegen diese Vokabel.
    "Das Wort vom verbrecherischen Vernichtungskrieg wollten sich die Deutschen ungern einverleiben"
    Schulz: Lassen Sie uns noch über Gedenken sprechen oder über Rezeptionen solcher Ereignisse. Im Bewusstsein vieler Russen spielt der Zweite Weltkrieg eine sehr große Rolle. Man spricht ja auch nicht zuletzt vom großen vaterländischen Krieg und das Gedenken an die mutmaßlich über 26 Millionen Opfer wird sehr hochgehalten. Auf der anderen Seite ist das Bewusstsein auf deutscher Seite für das Leid der russischen Bevölkerung während des deutschen Russland-Feldzuges eher überschaubar. Warum ist das so? Woran liegt das?
    Wette: Schwierige Frage, nicht leicht zu beantworten. Tatsache ist, ich darf noch mal daran erinnern: Der Zweite Weltkrieg war für den Vielvölkerstaat Sowjetunion der Integrationsfaktor Nummer eins überhaupt in der sowjetischen Geschichte seit 1917. Und auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben die russischen Präsidenten Jelzin und später auch Putin immer wieder erinnert an die heldenhaften Taten der russischen Soldaten, auch der sowjetischen Städte. Die alten Orden wurden neu aufgelegt. Wir erinnern uns daran, dass jeweils am 9. Mai eines jeden Jahres Paraden abgehalten wurden, wo die russischen Kriegsveteranen mit ihrer ordensbestückten Brust erschienen sind. Das hat eine ganz große sozialpsychologische Bedeutung für den Zusammenhalt der früheren Sowjetunion und dann auch Russlands.
    In Deutschland dagegen hat man sich ungemein schwergetan, die Wahrheiten, die nach und nach über den deutsch-sowjetischen Krieg ans Tageslicht gekommen sind, auch zu akzeptieren. Es wurde ein großer Bogen um das Thema russische Kriegsgefangene gemacht und erst seit dem späten 1970er-Jahren wissen wir, dass weit über drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene in deutschen Lagern zu Tode gekommen sind, und es hat gedauert bis in die 90er-Jahre hinein, bis durch viele Faktoren in der deutschen Gesellschaft allmählich ein Bewusstsein dafür entstanden ist, was für eine Sorte von Krieg die deutsche Wehrmacht in Russland eigentlich geführt hatte. Und das Wort vom verbrecherischen Vernichtungskrieg, das sich ja sehr klar belegen lässt, das wollten sich die Deutschen ungern einverleiben, und so kam es, dass eigentlich immer eine große Unwissenheit gegenüber dem Russland-Krieg vorhanden war, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.
    Ich würde jetzt gerne hier noch einen Satz dazu sagen, dass Anfang der 90er-Jahre, als der Kalte Krieg zu Ende war und als Russland die Grenzen geöffnet hat, es auch zu einem regen deutsch-russischen Historikeraustausch gekommen ist - und da gab es ganz denkwürdige Dinge zu erleben. Man hatte vorher gedacht, wie treten die uns wohl gegenüber, tragen die noch den alten Hass aus der Weltkriegszeit in sich, als sie als Untermenschen bezeichnet wurden, wie sehen die uns, können die uns überhaupt vorbehaltlos gegenübertreten. Und das Erstaunliche war: Da wirkte sich nicht nur die traditionelle russische Gastfreundschaft aus, sondern es war ein freundliches Entgegenkommen der russischen Kollegen zu spüren und auch viele andere Deutsche, die vergleichbare Erfahrungen gemacht haben, sagen, das war geradezu ein Wunder, wie die Russen, die viele Millionen Menschen im Krieg verloren haben, nun den Deutschen doch wieder freundlich und kooperationsbereit gegenübergetreten sind.
    "Da liegt Vieles im Erinnerungsschatten"
    Schulz: Was glauben Sie, wie können wir denn in Zukunft sicherstellen, dass dieses Gedenken an den deutschen Russland-Feldzug auf beiden Seiten auch in jüngeren Generationen sichergestellt wird, gerade wenn es jetzt auch immer weniger Zeitzeugen gibt?
    Wette: Was die russische Seite angeht, so vermute ich, dass die die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg schon deshalb immer hochhalten werden, weil er diese integrative Funktion ausüben kann und weil der Sieg im großen vaterländischen Krieg als eine Kompensation für innenpolitische Schwächen aller Art immer wieder herangezogen werden kann.
    Was Deutschland angeht, so muss man etwa auch mit Bundespräsident Gauck sagen, da liegt Vieles im Erinnerungsschatten. So hat er sich im vergangenen Jahr einmal geäußert. Insbesondere die Ermordung so vieler sowjetischer Kriegsgefangener liege im Erinnerungsschatten. Aber ich denke, man kann das ein ganzes Stück weit ausdehnen auf den gesamten deutsch-sowjetischen Krieg von 1941 bis _45. Da müssen wir uns, glaube ich, Neues einfallen lassen.
    Im vergangenen Jahr, am 22. Juni 2016, als sich der Überfall jährte, waren ja keine offiziellen Gedenkveranstaltungen. Ich erinnere mich, dass Erhard Eppler am sowjetischen Ehrenmal in Berlin gesprochen hat in Ermangelung einer größeren offiziellen Veranstaltung. Und es passiert ja so viel Schreckliches auf der Welt zurzeit, dass historisches Wissen ohnehin in den Hintergrund tritt, und wenn wir wollen - und wir sollten es wollen -, dass die Erinnerung an das, was die Deutschen 1941 folgende in der Sowjetunion angerichtet haben, dass das im Bewusstsein auch der jüngeren Menschen präsent bleibt, dann müssen wir uns auf allen Ebenen unseres Bildungssystems anstrengen, dass wenigstens einmal im Jahr an diese ungeheuerlichen Fakten erinnert wird. Ohne das wird ein gutes deutsch-russisches Verhältnis, eine Verständigung auf Dauer nur schwer erreichbar sein.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.