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"Schlaflose Nacht"
Ermattet von Wodka und Sex

Margriet de Moor, 1941 geboren, ist eine literarische Spätstarterin. Bevor sie mit über 40 Jahren erste Geschichten veröffentlichte, hatte sie bereits eine Karriere als Konzertpianistin und Sängerin hinter sich. Gleich mit ihrem allerersten Roman "Erst grau dann weiß dann blau" gelang Margriet de Moor der Durchbruch. Ihre Novelle "Schlaflose Nacht" erscheint im Herbst.

Von Gisa Funck | 28.12.2016
    Die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor
    Die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor im Gespräch mit Joachim Scholl auf der Frankfurter Buchmesse 2016. (Deutschlandradio / Jana Demnitz)
    Die Liebe, so heißt es, sei ein großes, wenn nicht sogar das größte Glück. Die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor aber erzählt in ihren Geschichten regelmäßig davon, wie leicht Liebesglück in Liebesunglück kippen kann: Nicht selten mit traumatischen oder sogar fatalen Folgen für Betroffene. Auch die namenlose Ich-Erzählerin aus de Moors Novelle "Schlaflose Nacht" ist so eine zutiefst Liebesgeschädigte. Die Enddreißigerin, die auf einem Bauernhof lebt und als Grundschullehrerin arbeitet, leidet seit Langem unter Schlafstörungen. Denn vor dreizehneinhalb Jahren ist in ihrem Leben etwas Ungeheuerliches geschehen: An jenem Sommerabend hat sich ihr über alles geliebter Ehemann Ton scheinbar grundlos eine Kugel in den Kopf gejagt, gleich neben dem Gewächshaus für Chicorée:
    "Warum hat er es getan?", fragen natürlich etliche.
    "Darauf muss ich dann die Antwort schuldig bleiben. Was mir wirklich leid tut. Es ist ein äußerst unangenehmes Gefühl, aber an diesem Punkt bin ich sprachlos. Jeder Appell an mein Wissen, meine Intuition, meine rasche Kombinationsgabe – vergeblich! Ich könnte keinem Menschen sagen, was meinen Mann in den letzten Augenblicken seines Lebens dazu getrieben hat."
    Der Selbstmord eines Menschen ist zweifellos ein Schicksalsschlag, der für Angehörige besonders schwer zu verkraften ist. Schließlich wirft jede Selbsttötung automatisch die Frage nach dem Warum auf. Und damit auch: Die Frage nach einer Schuld.
    Unverdaute Lebenskränkung
    Auch für Margriet de Moors Ich-Erzählerin wurde der Suizid ihres damals erst 25jährigen Ehemanns zur unverdauten Lebenskränkung. Zumal, so beteuert die Witwe gleich mehrmals, doch alles in dieser Ehe perfekt zu sein schien. Vom allerersten Moment an erkannte sie im Jurastudenten Ton, der später den Bauernhof seines Vaters übernahm, ihre große Lebensliebe:
    "Wir waren uns in Bezug auf uns sofort einig gewesen. Nennt man so etwas Liebe auf den ersten Blick? Das Typische war, dass ich nicht darüber nachgedacht hatte, damals, es war mir egal, weshalb Ton und ich vom ersten Mal an schlicht und einfach zusammenblieben. Diese Selbstverständlichkeit. Obwohl ich doch nicht ohne Erfahrung war. Obwohl ich doch wusste, dass es einen verrückt machen konnte."#
    Die Beichte einer Traumatisierten
    Keine Frage: Schlaflose Nacht ist die Beichte einer Traumatisierten. Interessant und ungewöhnlich aber ist, wie die Witwe darin von der unerhörten Begebenheit ihres Unglücks erzählt: Margriet de Moor, die in Interviews regelmäßig eine Über-Psychologisierung unserer Gesellschaft beklagt, spart in ihrer Novelle nämlich jeden psychologischen Erklärungsansatz aus. Stattdessen lässt sie ihre Heldin nüchtern-lakonisch, geradezu wertfrei, dafür aber mit genauem Blick über ihr Trauma sprechen. Und auch: Über Troststrategien, die sie im Laufe der Jahre entwickelt hat. Zu diesen Troststrategien gehört, dass die Witwe Kontaktanzeigen aufgibt und sich sporadisch mit Männern trifft: Immer nur für eine einzige, unverbindliche Liebesnacht.
    Einer dieser One-Night-Stands liegt nun zu Beginn der Novelle, ermattet von Wodka und Sex, schlafend im Bett der Erzählerin. Und obwohl diese sich, ganz anders als sonst, durchaus zum neuen Liebhaber hingezogen fühlt, steht sie auch in dieser Nacht wieder auf, um ihre Ruhelosigkeit mit einer zweiten bewährten Troststrategie zu bekämpfen: Mit nächtlichem Kuchenbacken:
    "Ich stelle mich etwas breitbeiniger hin und hole Luft. Mitten in der Nacht beginne ich, auf den bleichen, gefügigen Teigklumpen vor meinem Bauch einzudreschen. Man könnte es mit der Angst zu tun bekommen. Nur gut, dass mich keine Menschenseele sieht. Ich trete von der Anrichte zurück. Nach aller Gewalt, die ich ausgeübt habe, ist der Teig fertig, jetzt muss er eine Stunde lang gehen.
    Eine Stunde: Das ist die Zeit, die der Russische Napfkuchen zum Fertigbacken braucht. Und eine Stunde, das ist auch der Zeitrahmen der Novelle, in dem die traumatisierte Erzählerin noch einmal den entscheidenden Knacks ihrer Biografie rekapituliert. In immer neuen Erinnerungsschlaufen driften ihre Gedanken in die Vergangenheit ab: Vom neuen Liebhaber hinüber zum verstorbenen Ehemann. Und dann weiter zur Trauerzeit, zum Verhalten der Familie, der Freunde, der Nachbarn nach dem Suizid beim Gewächshaus. Dass die Witwe eine Zugezogene ist, die von den Dörflern beargwöhnt wird, machte Ihr das Unglück umso schwerer erträglich.
    Es ist beeindruckend, wie kunstvoll de Moor bereits in dieser frühen Erzählung die verschiedenen Zeitebenen miteinander verschaltet. Und je länger der innere Monolog ihrer Erzählerin dahinrauscht, desto deutlicher wird, dass deren Wunschversion vom treuliebenden Ehemann Ton offensichtlich nicht so ganz stimmt. Zumindest hatte der Selbstmörder anscheinend auch Geheimnisse vor seiner Frau. Sammelte etwa ohne ihr Wissen Bücher über Polar-Expeditionen. Und woher kam der Parkschein für ein Parkhaus in Leiden, den die Witwe eines Tages unverhofft in einer Manteltasche des Toten fand?! Kannte sie ihren Ehemann also gar nicht so gut? Ja, hatte der Ton vielleicht sogar etwas vor ihr zu verbergen?
    Margriet de Moor lässt die Beantwortung dieser Fragen in ihrer Novelle letztlich offen – und delegiert sie dadurch an den Leser weiter: Das wirkt erst einmal etwas unbefriedigend. Und hallt doch merkwürdig nach.
    Denn so schmal und sprachlich unspektakulär diese neu überarbeitete Liebesrätsel-Geschichte aus dem Jahr 1989 auch daherkommt: Sie entwickelt schleichend Sogkraft. Vielleicht, weil in dieser Nachtbeichte eine Botschaft mitschwingt, die wir gerade heute in unserer Perfektionsgesellschaft allzu gern vergessen: Jeder Mensch bleibt letztlich immer ein Mysterium. Egal, wie innig man sich ihm verbunden fühlt und wie gut man ihn zu kennen glaubt.
    Margriet de Moor: "Schlaflose Nacht" Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Novelle. Hanser Verlag, München, 128 Seiten, 16 Euro.