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Schlechte Noten für Ungarns Demokratie

365 neue Gesetze hat es seit der Regierungsübernahme von Viktor Orbán im Jahr 2010 gegeben. Einzelne von ihnen wurden von der Europäischen Union immer wieder scharf kritisiert. EU-Berichterstatter Rui Tavares hat wochenlang das Land besucht - sein Bericht besagt nichts Gutes.

Von Jörg Münchenberg | 08.05.2013
    Rui Tavares hat sich viel Zeit genommen. Wochenlang hat der portugiesische Abgeordnete des Europäischen Parlaments, der zur Fraktion der Grünen gehört, in Budapest Gespräche geführt. Mit Politikern, Nichtregierungsorganisationen und Regierungsvertretern. Jetzt hat er erstmals seine Analysen zur Lage in Ungarn im Innenausschuss des Parlaments präsentiert – und die fallen in Bezug auf Artikel 2 des EU-Vertrages zur Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ernüchternd aus:
    "Es gibt einen allgemeinen Trend in Ungarn. Demnach entfernt sich das Land mehr von den beschriebenen Werten in Art. 2, als dass eine Annäherung erfolgt.”
    Bericht mit erheblichem Gewicht
    Noch ist es nur ein Berichtsentwurf. Doch das Papier hätte am Ende erhebliches politisches Gewicht, denn erstmals würde sich damit auch das Europäische Parlament angesichts der Dauerquerelen zwischen der ungarischen Regierung und der EU klar positionieren, sagt die Fraktionschefin der Grünen, Rebecca Harms:
    "Meiner Meinung nach kommt der Kollege Tavares zu einer sehr zutreffenden Beschreibung der Lage in Ungarn. Wir haben es seit mehreren Jahren mit einem Land zu tun, in dem die Regierung Orban, gestützt auf eine Zwei-Drittel- Mehrheit, den Staat nach ihren Wünschen und parteipolitischen Zielen umbaut und ausrichtet.”
    In seinen Empfehlungen spricht sich Tavares dafür aus, dass die ungarische Regierung zentrale wie umstrittene Gesetzesänderungen korrigiert. So soll etwa das Verfassungsgericht wieder das Recht haben, alle Rechtsvorschriften ohne Ausnahme zu prüfen; die Unabhängigkeit der Justiz müsse wiederhergestellt werden, ebenso die Wahrung der Medienfreiheit.
    Heute wären politische Beitrittskriterien nicht erfüllt
    Komme die Regierung dieser Aufforderung nicht nach, sei ein Verfahren nach Artikel 7 zu prüfen – was in letzter Konsequenz auch den Stimmrechtsentzug für Ungarn bedeuten könnte. Ein richtiger Ansatz, lobt der Abgeordnete der Liberalen, Alexander Graf Lambsdorff:
    "Die Situation in Ungarn ist so, dass, wäre das Land heute Beitrittskandidat, könnte das Land nicht mehr beitreten. Weil die politischen Kriterien nicht erfüllt sind. Die Unabhängigkeit der Zentralbank steht in Frage. Die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts ist beschnitten worden und seine Kompetenzen auch. Wir haben Schwierigkeiten mit den Medien und den Minderheiten. Also es sind so viele Probleme, dass die Frage nach Artikel 7 richtig ist und dass der Bericht das tut.”
    Diskussion um Artikel 7
    Doch es gibt auch andere Stimmen. Gerade die Fraktion der Europäischen Volksparteien lehnt bislang eine scharfe Ermahnung des Parteifreundes Viktor Orban ab. Ebenso ein mögliches Verfahren, das den Verlust der Stimmrechte bedeuten könnte, betont der CSU-Abgeordnete Manfred Weber:
    "Der Artikel 7 ist die schärfste Waffe, die die Europäische Union hat. Um einen Mitgliedsstaat, der wegdriftet, der die demokratischen Prinzipien, die Grundrechte Europas missachtet, auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Bei Ungarn sehen wir diese Gefahr heute nicht. Ich glaube, dass der Artikel 7 ein deutlich zu weitgehender Mechanismus ist und er sollte in diesem Fall auch nicht angewandt werden.”
    Kommission könnte Einhaltung der Kriterien überwachen
    Überhaupt sieht Weber im Tavares-Bericht eine Vorverurteilung Ungarns; Streit über einzelne Passagen ist also vorprogrammiert. Doch weil ohnehin auch die institutionellen Hürden für Art 7 extrem hoch sind – allein der Rat müsste mit vier Fünftel seiner Mitglieder zustimmen – hat der Berichterstatter vorgebaut.
    Tavares plädiert für neue Instrumente und Einrichtungen – etwa die Schaffung einer Kommission, die auch nach einem Beitritt zur EU die Einhaltung der Beitrittskriterien überwachen soll. Dafür gibt es parteiübergreifend viel Lob – etwa vom Liberalen Lambsdorff:
    "Es wäre natürlich schon schön – wir könnten die Lücke schließen zwischen dem in Anführungsstrichen Atombombe genannten Verfahren nach Artikel 7 auf der einen Seite und dem ebenfalls in Anführungsstrichen Zahnstocher genannten Vertragsverletzungsverfahren, das immer ein sehr technisches Verfahren ist.”
    Doch zunächst einmal wird es darum gehen, eine möglichst breite parlamentarische Mehrheit für den Tavares-Bericht zu gewinnen. Nur so kann der Druck auf Kommission, Rat, aber auch die ungarische Regierung wirksam erhöht werden. Ob das gelingt, ist angesichts der politischen Lagerbildung jedoch keinesfalls sicher.