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Schlüsselroman zum 10. Todestag von Thomas Brasch

Heute vor zehn Jahren verstarb Thomas Brasch im Alter von 56 Jahren. Mit Büchern wie "Vor den Vätern sterben die Söhne" und "Der schöne 27. September" machte sich der frühere DDR-Rebell einen Namen. Nun erscheint erstmals ein Schlüsselroman über sein Leben, verfasst vom langjährigen Freund Klaus Pohl.

Von Ralph Gerstenberg | 03.11.2011
    "Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
    wo ich bin will ich nicht bleiben, aber
    die ich liebe will ich nicht verlassen, aber
    die ich kenne will ich nicht mehr sehen, aber
    wo ich lebe will ich nicht sterben, aber
    wo ich sterbe, da will ich nicht hin
    bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin."


    In diesen wohl bekanntesten Gedichtzeilen von Thomas Brasch äußert sich die innere Zerrissenheit eines Mannes, dessen Biografie eng verknüpft ist mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. 200.000 Dollar hat ein New Yorker Agent dem gerade aus der DDR in den Westen übergesiedelten Thomas Brasch für dessen Lebensgeschichte geboten. Darin - so der geschäftstüchtige Amerikaner - stecke der Stoff für einen Roman von mindestens 800 Seiten. Doch Thomas Brasch hat den Roman seines Lebens nie geschrieben. Dafür legt nun dessen Freund und Weggefährte, der Autor und Schauspieler Klaus Pohl, mit "Die Kinder der preußischen Wüste" einen Schlüsselroman von immerhin knapp 500 Seiten über Thomas Braschs Leben vor, der darin Robert Papst heißt.

    "Ich stand – das war eine der schwierigsten Entscheidungen – vor der Wahl, den Namen von Thomas zu nehmen oder eben Robert Pabst. 'Robert' hat er immer wieder für sich selbst verwendet, in einer Erzählung, die ich auch gespielt habe: 'Vor den Vätern sterben die Söhne' in einer Verfilmung. Das Problem war für mich: Wenn ich seinen Namen genommen hätte, dann hätte ich mich sklavisch an zeitliche Abläufe halten müssen. Und ich hab manchmal in der Zeit Dinge verschoben, also Dinge haben manchmal nicht dort stattgefunden, wo sie stattgefunden haben, sondern ein Jahr früher oder ein Jahr später. Außerdem wollte ich am Schreibtisch eine gewisse dichterische Freiheit gerade mit der Figur von Thomas haben. Und die konnte ich nur dadurch gewinnen, dass ich nicht immer seinen Namen hinschreiben musste."

    Durch die Fiktionalisierung der Lebensgeschichte seines Freundes gewinnt Klaus Pohl die Möglichkeit, Ereignisse atmosphärisch dicht zu beschreiben und so das geistige Klima einer Epoche mit belletristischen Mitteln herauszuarbeiten. Anekdoten, Interviewpassagen und Selbstaussagen werden zu Romanszenen. Das Handlungsgerüst bilden die biografischen Fakten: Thomas Brasch wurde - ebenso wie Robert Papst in Klaus Pohls Roman - 1945 in London geboren. Sein Vater machte in der jungen DDR politisch Karriere, wurde stellvertretender Kulturminister und schickte den Sohn mit zehn Jahren nach Naumburg in die Kadettenschule der neugegründeten Nationalen Volksarmee. Dort sollte aus dem Heranwachsenden ein gesinnungstreuer Kämpfer für das sozialistische Vaterland werden. Der Junge war begeistert.

    "Er entscheidet sich flammend, er ist total glücklich, dass sein Vater ihn jetzt, wie er meint, so ganz und gar liebt, wie er sich das wünscht. Und dann geht seine Mutter mit ihm eine Woche, bevor er dort einrücken muss, in Ostberlin in das Theater. Und dort sieht er ein Stück, wo er begreift, er hat den falschen Weg genommen, aber er kann jetzt nicht mehr abbiegen, zurückgehen. Nach anderthalb Jahren schrieb ihm Thomas, dass er raus will aus dieser Anstalt, dass er Schriftsteller, Dichter werden will. Und der sagt ihm: Du bist dafür am richtigen Ort, da lernst Du das wahre Leben kennen. Und lässt ihn nicht raus."

    "Robert hielt es in der Kadettenschule nicht mehr aus. Er musste einen Ausweg finden. Er kam auf die Idee, vor den Offizieren den Hitler zu spielen, er wollte alles sagen, was in der DDR verboten und ein Tabu war. (...) "Ich bin ein Staatsfeind. Der Sozialismus ist das Allerletzte, was ich überhaupt kenne", brüllte er mit bellender Hitler Stimme. (...)
    Man zerrte Robert in die Anstaltsküche, verdonnerte ihn zum Küchendienst. Robert nahm den Teekessel und kippte sich den heißen Tee über die Beine. Mit einem verbrannten Bein kam er in die Krankenstation. Später rannte er mit scharfer Munition los und ballerte unter den hohen Mauern herum.
    Alles, was er sich mit seinen skandalösen Auftritten einhandelte, war, dass ihm der Ausgang gestrichen wurde und er nicht mehr nach Naumburg zum Tanzen durfte. Die anderen Kadetten sprachen jetzt nicht mehr mit ihm. Er wurde aus dem Schlafsaal geholt und musste mehrere Nächte im Stehen verbringen."


    1960 wurde die Kadettenschule aufgelöst. Thomas Brasch hatte dort vier Jahre lang den eklatanten Widerspruch zwischen der sozialistischen Idee und der DDR-Wirklichkeit am eigenen Leib zu spüren bekommen. Kein Vorzeigestaatsbürger war aus ihm geworden, sondern ein renitenter Rebell, der von der Journalistenschule, dem sogenannten "Roten Kloster", wegen "Verunglimpfung führender Persönlichkeiten der DDR" flog und 1968 mit einer Flugblattaktion gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei protestierte. Nach Gefängnisaufenthalt, Bewährung in der Produktion und einem Publikationsverbot blieb 1976 nur die Übersiedlung in die Bundesrepublik. In seinem Roman verknüpft Klaus Pohl die Geschichte von Thomas Brasch mit der von der rumänischstämmigen Sängerin Sanda Weigl - Braschs erster Liebe, die Pohls Ehefrau werden sollte.

    "In dem Augenblick, als ich versucht habe, die Geschichte von Thomas Brasch zu erzählen, wurde es auch die Geschichte von Sanda Weigl, auch durch die beiden Väter, die beide Deutschland verlassen haben, Weigl, der Vater von Sanda, meiner Frau, im 33er-Jahr, direkt nach dem Reichstagsbrand, Brasch ging 38. Und diese verschiedenen Rückkehren haben mich immer fasziniert, wozu die geführt haben. Wo eine persönliche Geschichte plötzlich zu der deutschen Geschichte wird, was sie bei beiden Vätern immer wieder wurde, durch Fluchten, sie mussten weggehen, kamen wieder. Und diese Auseinandersetzung mit den eigenen Träumen und Ideen von einem anderen Deutschland fand ich in diesen Geschichten so persönlich aufgehoben, dass es für mich ziemlich bald keine Frage war, die zu erzählen."

    "Vor den Vätern sterben die Söhne" lautete der Titel von Thomas Braschs erstem Erzählband, der kurz nach dessen Ausreise erschien. Der Krieg zwischen Vater und Sohn fand kein versöhnliches Ende - in Thomas Braschs Leben nicht und nicht in Klaus Pohls Roman. Als Thomas Brasch alias Robert Papst, der sich im Westen stets zur DDR bekannte, wenige Wochen vor dem Mauerfall nach Ostberlin eingeladen wurde, um aus seinen Texten zu lesen, besuchte der gefeierte Autor und Filmemacher seinen krebskranken Vater in einer engen Erdgeschosswohnung.

    "Der Vater starrte auf seine Hände. "Was willst du?"
    "Ich will ...". stotterte Robert verlegen. "Du weißt, was ich will, ich will ... dass du ... mir ... wieder gut ... bist."
    "Nein. Du kommst dir sehr erhaben vor", sagte Klaus Papst angewidert. "Du hast mich mehr als einmal tief gekränkt. Es geht nicht darum, wie ich dich erzogen habe. Ich will von mir reden. (...) Ich habe Krebs. Am liebsten würde ich auf jegliche Behandlung verzichten, aber das kann ich deinem Bruder nicht antun. Ich will auf den Friedhof. Die Reaktionäre besetzen die Bühnen der Welt. Du versuchst, meine krankheitsbedingte Schwäche auszunutzen, und belagerst mich mit Sentimentalitäten. (...) Hohn habe ich für dich übrig, Hohn! Der Sozialismus ist nicht am Ende, er hat eine Schlacht verloren, nicht am Ende nie! Sei gegrüßt auf Nimmerwiedersehen von deinem Vater." Er drehte sich von Robert weg."


    Nach dem Mauerfall verstummte Thomas Brasch fast völlig. Er übersetzte Shakespeare und widmete sich seinem großen Romanprojekt über den "Mädchenmörder Brunke", einen dichtenden Bankangestellten, der in den 20er-Jahren zwei Frauen auf Verlangen tötete. Die Arbeit an dem Manuskript wurde auch zu einer Flucht vor der eigenen Geschichte, die Thomas Brasch nicht schreiben konnte.

    "Thomas hat sich in dieses Projekt so unglaublich verrannt und verirrt. Eine meiner letzten Szenen waren mit ihm in dieser Wohnung, wo er das ganze Manuskript, das waren nahezu 10.000 Seiten, ausgedruckt hatte und auch gebunden hatte, die dort auf einem Wirtshaustisch, den er hingestellt hatte, lagen. Das waren zwölf riesige Bände, das war sozusagen das Werk, in das er sich verrannt hatte, weil er das andere nicht schreiben wollte, warum auch immer nicht. Am Schluss hat er gesagt, wenn der Agent noch einmal käme, dann würde ich es schreiben. Aber dafür war es dann zu spät."

    Klaus Pohl hat die Geschichte seines Freundes nun zehn Jahre nach dessen Tod veröffentlicht. Sein Roman "Die Kinder der preußischen Wüste" ist ein mehrstimmiges poetisch-episches Zeitbild geworden, teilnahmsvoll an den Tatsachen entlang erzählt von jemandem, der weiß, wovon er schreibt, und das Kunststück fertigbringt, sich selbst in einem Roman auftreten zu lassen, ohne dass das peinlich wird. Seine Sprache ist kantig und knapp. Einwortsätze ersparen häufig lange Ausführungen und verleihen dem Text Tempo. Die politische Großwetterlage der damaligen Zeit wird nur dann erläutert, wenn es für das Verständnis von Lesern, die weder mit der Brasch- noch mit der DDR-Geschichte vertraut sind, unbedingt notwendig ist. Heiner Müller, F.C. Delius oder Katharina Thalbach sind im Pohl'schen Universum unschwer zu erkennen. Figuren wie der Maler Bruno Kieling hingegen wurden von Klaus Pohl aus verschiedenen Vorbildern quasi zusammenmontiert. Pohls Roman ist das facettenreiche Porträt eines Mannes, dem es im Leben wie in der Kunst unmöglich war, den einfachen Weg zu gehen.

    "Der war ihm verschlossen, das war das Rätsel, das Mysterium. Es war, wie ich das dem Buch vorangestellt hab, wie Shakespeare das so schön den Richard II sagen lässt: Er konnte erst zufrieden sein, wenn er auch sich selbst los war. Das ist vielleicht ein seltsames Motto, aber auch verständlich. Es gibt so viele Menschen, auch Autoren, die sozusagen versuchen, ein Buch darüber zu schreiben, wie sie versuchen, sich und ihr Erbe loszuwerden. Das war bei Thomas in seiner Unerbittlichkeit erschreckend zuzuschauen, wie weit er das getrieben hat, also diesen Zerstörungsprozess."

    Klaus Pohl: "Die Kinder der preußischen Wüste", erschienen im Arche Verlag, 496 Seiten kosten 24,90 Euro

    Subtiles Porträt eines Suchenden - Christoph Rüters Dokumentarfilm "Brasch – Das Wünschen und das Fürchten"