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Schlüsselwerk

Andrej Bitows Roman "Das Puschkinhaus" gilt als eines der großen klassischen Werke der russischen Literatur im 20. Jahrhundert. Einerseits eine Darstellung des Leningrader Alltags im Intellektuellenmilieu der 50er, 60er Jahre, ist das Werk zugleich ein Essay über die russische Literatur und Kultur.

Von Karla Hielscher | 02.01.2008
    Andrej Bitow: "Irgendwo gegen Ende des Romans haben wir bereits versucht, jenes saubere Fenster zu beschreiben, jenen eisigen Himmelsblick, der am siebten November, ohne zu blinzeln, auf die Menschenmengen in den Straßen herabstarrte. Bereits damals schien es, als wäre es nicht umsonst so klar, als wäre die Klarheit womöglich von Spezialflugzeugen erzwungen, nicht umsonst auch in dem Sinne, dass man dafür bald würde büßen müssen."

    Andrej Bitow liest den Anfang seines Romans "Das Puschkinhaus", der - entstanden 1964 -1971 - inzwischen längst als eines der großen klassischen Werke der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts gilt.

    Und sogleich am Anfang erahnt man die außerordentliche Vielschichtigkeit und ironische Verspieltheit dieses hochkomplexen, intellektuellen Werks über Russland und seine Kultur. Das erste Kapitel trägt die Überschrift "Was tun?", also den Titel des berühmten Werks von Nikolaj Tschernyschewskij, aus dem auch das Motto stammt, sowie einer politischen Schrift Lenins. Der Untertitel nennt sich "Prolog oder Kapitel, das nach den anderen geschrieben wurde", und der erste Absatz des Textes, der im Epilog wortwörtlich wieder auftaucht, deutet die Kreisform des Romans an.

    Die Geschichte des jungen Ljowa Odojewzew, seines nach langem Lageraufenthalt zurückgekehrten Großvaters, eines berühmten Linguisten, und seines geliebten Ersatzvaters Onkel Dickens ist auf der ersten Ebene eine ganz konkrete, realistische Darstellung des Leningrader Alltags im Intellektuellenmilieu der nachstalinschen Epoche der 50er, 60er Jahre, in der die Literatur für viele zum Ersatz für ein wirkliches Leben wurde. Zugleich aber ist das ein Roman-Essay, ein "Roman-Museum" - wie es im Text heißt - über die russische Literatur und Kultur und ihre durch Revolution und Sowjetzeit abgerissenen und doch unsterblichen Traditionen.

    Ein dichtes Gewebe von literarischen Anspielungen überzieht die Fabel, ja bildet die eigentliche Grundstruktur dieses Textes. Alle Kapitel und Epigraphen verweisen auf Schlüsselwerke von Puschkin, Lermontow, Turgenjew, und im Sujet werden parodistisch charakteristische Motive der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts wie das Duell, die Maskerade, der Schuss verarbeitet. Der Romantitel "Puschkinhaus" - so heißt das in Petersburg angesiedelte literaturwissenschaftliche Institut der russischen Akademie der Wissenschaften - demonstriert deutlich, dass der Hauptgegenstand dieses Buches die russische Literatur ist.

    Aber natürlich ist die Metapher "Puschkinhaus" viel weiter zu verstehen. Wie es im Buch an einer Stelle heißt: "Sowohl die russische Literatur, wie Petersburg (Leningrad) wie Russland - all das ist so oder so, ein Puschkinhaus ohne dessen krausköpfigen Bewohner..."

    Dazu der Autor:

    "Diese Allusion auf das Puschkinhaus als akademische Institution hat mich natürlich gestört. Ich habe nicht über diese Einrichtung geschrieben und es ist ehrlich, wenn ich darauf hingewiesen habe, dass ich dort nur ein einziges Mal gewesen bin. Das ist also belanglos. Im wahrsten Sinne ist das alles Fiktion.

    Nicht umsonst nannte man den "Evgenij Onegin" eine "Enzyklopädie des russischen Lebens." Und der Geist Puschkins, das ist das Beste, was wir in Russland haben. Und sein Verständnis, seine Sicht auf Russland ist bis heute nicht veraltet."

    Das Geschehen um den "Helden unserer Zeit" Ljowa mit seiner adeligen Herkunft, den Beziehungen zu seinen Freunden, in denen sich die typischen geistigen Debatten der russischen Intelligenzija spiegeln, den Liebeserfahrungen mit drei Frauen und seinem Beruf als Literaturwissenschaftler bildet - zusammen mit Texten der Protagonisten, literaturwissenschaftlichen Reflexionen, kursiv gesetzten essayistischen Abhandlungen und einem ausführlichen Kommentar des Autors - ein Mikromodell der russisch-sowjetischen Kulturgeschichte. Die grandiose Kulmination der Handlung wird zum witzigen Sinnbild der Dekonstruktion der kulturellen Tradition: Während der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution, wo Ljowa im Literaturmuseum Wache schieben muss, kommt es nach einem verrückten Saufgelage zum Duell mit den Pistolen Puschkins und der völligen Verwüstung des Museums.

    Es fasziniert, wie der junge Bitow unter den abgeschlossenen Bedingungen der sowjetischen Stagnationszeit - ohne Kenntnis der westeuropäischen literarischen Moderne - sich praktisch seine eigene Moderne erfand: ein komplexes, raffiniertes Spiel mit dem Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit, den Bedingungen des Schreibens, den literarischen Gesetzen der Fiktion, wobei die Verfahren offen gelegt, ironisch reflektiert und alle Ereignisse auch mit anderen Versionen und Varianten durchprobiert werden.

    Die Literaturkritik hat das Buch inzwischen immer wieder als verblüffend frühes Beispiel der Postmoderne interpretiert. Davon aber will Bitow nichts wissen:

    " Einige sind der Ansicht, dass das überhaupt der erste postmodernistische Roman ist. Meiner Meinung nach aber gibt es das alles schon bei Puschkin, ja, vor allem bei Puschkin. Alle diese Verfahren, die ich mir ausgedacht habe und da benutze, die kann ich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, im goldenen Zeitalter der russischen Literatur finden: Sowohl so einen Typ des Helden, so einen Mann ohne Eigenschaften, so eine Art der Kommentierung innerhalb des Textes, und so ein Nachdenken über die Rolle des Autors und den Platz des Autors, all das kann man vor allem schon im "Evgenij Onegin" finden. Also der erste postmoderne Roman ist der Roman in Versen "Evgenij Onegin".

    Und der zweite postmoderne Roman - also da würde ich nicht widersprechen - der ist sogar noch früher: das ist Lawrence Sternes "Tristram Shandy" in der englischen Literatur ...

    Nur, als ich das alles schrieb, da hab ich gedacht, dass ich mir das alles ganz neu selbst ausdenke. Aber dann habe ich verstanden, dass es da Wurzeln gibt ..." "

    Die hervorragende Neuübersetzung des Buchs von Rosemarie Tietze wird der spielerischen Leichtigkeit und dem stilistischen Reichtum von Bitows Sprache voll gerecht. Erst in dieser Ausgabe ist der ausführliche, zum Textganzen gehörende Kommentar des Autors aufgenommen. Er berücksichtigt insbesondere Details und Realien des Alltags der Sowjetzeit - wie Zigarettenmarken, Hosenmoden oder Wodkapreise - betont also die ganz realistische Ebene des Romans. Durch zusätzliche Kommentare der Übersetzerin entsteht ein geistreicher Dialog zwischen dem Autor und seiner Übersetzerin. Auf die Erläuterung der meisten literarischen Anspielungen - Bitow besteht darauf, dass das "Wissen aus der Mittelschule dafür ausreicht" - hat sie aber bewusst verzichtet.

    ""Das ist ein Buch für anspruchsvolle Leser, das ist vollkommen klar. Das ist ein Buch, was so viele versteckte Anspielungen, so viele Schichten, so viele immer wieder neue Entdeckungen erlaubt, dass ich auf gar keinen Fall dem Leser alles vorkauen darf. Das würde überhaupt nicht zu dem Buch passen. Der Leser muss diese Entdeckungen selber machen können." "

    Ja, es ist dies ein ganz außergewöhnliches Buch für fortgeschrittene Leser. Wer sich aber wirklich darauf einlässt, den erwartet ein anregendes, vergnügliches und immer wieder überraschendes Leseabenteuer.

    Andrej Bitow: Das Puschkinhaus. Roman. Deutsch von Rosemarie Tietze, Suhrkamp Verlag 2007, 590 Seiten