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Schlusspunkt am Beginn

Doris Runge gehört zu den großen deutschsprachigen Lyrikerinnen. Abseits literarischer Moden publiziert sie alle drei, vier Jahre ein neues Buch. Die überwiegend reimlosen Gedichte sind stark verknappt und dennoch musikalisch; sie sind reich an poetischen Bildern und überraschen trotz ihrer Kürze durch eine Offenheit, die dem Leser mehrere Deutungsmöglichkeiten gibt.

Von Matthias Kußmann | 13.12.2007
    "schluss punkt

    nur noch
    dieser
    gedankenstrich
    die verlängerung
    die auslaufende
    linie
    am horizont
    ziehende vögel"

    Dies ist das erste Gedicht in Doris Runges neuem Buch "die dreizehnte" - ein Schlusspunkt, der interessanterweise am Anfang steht:

    "Als ich anfing zu schreiben und diesen Band zu konzipieren, dachte ich: Eigentlich habe ich doch schon alles gesagt" Da schrieb ich so vor mich hin: schluss punkt. Daraus entstand dann das Gedicht. Die Verlängerung, der Gedankenstrich, die auslaufende Linie - das sind die folgenden Gedichte.""

    Gedichte, mit denen Doris Runge ihren Rang bestätigt. Die 1943 geborene Autorin, die kürzlich den Ida-Dehmel-Preis erhielt, gehört zu den großen deutschsprachigen Lyrikerinnen - wenngleich sie nie viel Aufhebens um sich und ihr Werk machte. Abseits literarischer Moden publiziert sie alle drei, vier Jahre ein neues Buch. Sie hat ihre eigene Sprache, ihren eigenen Ton gefunden: Die überwiegend reimlosen Gedichte sind stark verknappt und dennoch musikalisch; sie sind reich an poetischen Bildern und überraschen trotz ihrer Kürze durch eine Offenheit, die dem Leser mehrere Deutungsmöglichkeiten gibt.

    "Und zwar mach ich das so, dass ich mir den Text offen halte, indem ich keine Interpunktion benutze und konsequent Kleinschreibung halte. Dadurch hab ich die Möglichkeit, mir Gelenkwörter zu schaffen. Das Apokoinu ist natürlich ein ganz wichtiges Stilelement, mit dem ich umgehen kann und das mir die Möglichkeit gibt, Doppeldeutigkeit in so kurze Texte zu bringen, dass ich ein Wort nehme, das man so setzen kann, dass es den Sinn der ersten Zeile mit aufnimmt, aber auch den der zweiten. Dadurch habe ich eine Chance, auf winzigem Raum sehr viel mehr zu sagen."

    Vieldeutig ist auch der Titel ihres neuen Buchs, "die dreizehnte". Die Zahl und ihre Bedeutungen - Glück, Unglück oder Geheimnis - kommen gleich in mehreren Gedichten vor:

    "Diese ambivalente Zahl - mit der man ja Unglück und gleichzeitig auch Glück verbindet. Denn im alten Testament zum Beispiel ist die 13 eine Glückszahl, sonst sagt man eher, eine Unglückszahl. Die Ambivalenz dieser Zahl hat mich fasziniert. Dann hab ich angefangen, ein Spiel mit der Zahl zu treiben und mit ihren verschiedenen Bedeutungsebenen zwischen Magie und Kalkül. Die Dreizehnte begegnet uns schon als Kind das erste Mal, nämlich im Märchen. Dann hab ich den Dreizehnten gefunden, den 13. Jünger, das ist auch eine mysteriöse Figur. So habe ich mich auf das Thema eingelassen und fand, dass es dazu eine Menge zu sagen gibt. In meinen Texten sieht man ja: Die 13 taucht ganz unterschiedlich auf, nicht immer mit der Zahl, aber manchmal mit dem, was als Bedeutung dahintersteht."

    Doris Runge lebt seit Jahrzehnten im holsteinischen Cismar - im "Weißen Haus", der früheren dänischen Amtsschreiberei aus dem 18. Jahrhundert. Dem Meer, der Weite, der spröden holsteinischen Landschaft und dem alten Haus - dem Lebensmittelpunkt der Autorin - begegnen wir auch in ihren Gedichten. Etwa im folgenden, das lakonisch mit "wg" überschrieben ist, und sehr schön Runges spielerisch-ironische Seite zeigt. Die "Wohngemeinschaft", um die es geht, besteht aus der Autorin und den Geistern, literarischen und sonstigen, im "Weißen Haus":

    "wg

    im dänischen
    amtschreiberhaus
    am tage verwalte ich
    sorge versorge sorge vor
    lege ab und an
    fege staub
    den die nachtschicht
    aufwirbelt
    die unsterblichen
    fliegen
    gegen alle klatschen
    gefeit aus altem
    geschlecht dänisch
    schätze ich
    wie die verblichenen
    buchhalter
    mit ärmelschonern
    meine geschichte
    verwischen
    penetrant und penibel
    alles vermischen
    nacht für nacht
    legt mir eine
    unerlöste seele
    ihr gebrochenes herz
    ans herz als wärs
    mein eigenes"

    Schon immer gab es bei Runge Gedichte, in denen die sogenannte Realität verlassen wird - wenn beispielsweise mythologische Figuren auftreten, etwa die Meerjungfrau, der die Autorin einmal einen Gedicht-Zyklus widmete. Im neuen Buch schreibt sie mehr über die Themen ihres alltäglichen Lebens - die aber oft genug allgemeingültig sind. Es sind die großen Themen der Literatur:

    "Naja, ich schneide meine Themen vom ältesten Brot der Dichtkunst: Liebe, Tod und Teufel - der Teufel jetzt als Abbreviatur gesehen für Diesseits und Jetzt. Aber Liebesgedichte gehören einfach dazu. Und ich glaube, die Poesie wäre ohne die Liebe nichts - und umgekehrt vielleicht ja auch nicht die Liebe ohne die Poesie."

    In den Liebesgedichten schwingt allerdings Skepsis mit. Wie kann man eine Liebe über Jahre, gar Jahrzehnte lebendig halten? Ist das überhaupt möglich? Auch um das Altern geht es, die Veränderung des eigenen Körpers. Doch all das wird nicht klagend oder gar bitter behandelt, sondern mit freundlichem Spott, mit Selbstironie - oder leiser Melancholie:

    "schön

    dass wir im flug
    beieinanderliegen
    schön dass wir
    im flug
    erliegen
    schön dass wir
    liegen
    beieinander
    liegen
    und
    siegen
    jeder für sich"

    Am Anfang von Doris Runges neuem Buch steht der "schluss punkt", der paradoxerweise zum Schreiben und Leben führt - und am Schluss steht ein Gedicht über den Tod. Damit hat die Autorin für eine Art kleine Rahmenhandlung gesorgt, ein A und O, zwischen dem die anderen Texte stehen: Erinnerungen an die Kindheit, Naturbilder, Blicke auf den Alltag, das Leben. Der Tod wird im Schlussgedicht mit keinem Wort erwähnt, und doch ist klar, worum es geht. Freilich handelt es sich hier nicht um einen Auszug, wie es oft heißt, den Exodus. Im Gegenteil, von einem "einzug" ist die Rede, und zwar in einen kleinen, engen Ort: den Sarg. Wie man auch davon mit sanfter Ironie sprechen kann, und dem Gedicht sogar poetischen Glanz verleiht, mit sparsam gesetzten Reimen und Wörtern wie "Brot und Salz" und "Abendrot" - das zeigt Doris Runges Kunst noch einmal:

    "einzug

    zwei koffer tand
    und auch den
    kleidersack
    laß ich zurück
    nur noch
    das nachtgewand
    und abendrot
    und brot
    und salz
    das neue haus
    ist klein"



    Doris Runge: die dreizehnte. Gedichte
    DVA
    96 Seiten, 14,95 Euro