Freitag, 29. März 2024

Archiv


Schmaler Grat

Walter Kempowski ist ein Zuspätgekommener der deutschen Nachkriegsliteratur. Als sich seine Altersgenossen zu ihren berüchtigten Netzwerken im Kulturbetrieb zusammenschlossen, darbte er im Bautzener Knast. Als sie die ersten Erfolge feierten, unterrichtete er ABC-Schützen auf dem platten Lande, und als er mit vierzig Jahren endlich debütierte, tat er dies mit seinem Gefängnisbericht Im Block – ein Thema, wie es 1969 nicht zeitgeistwidriger hätte sein können. Dass er wenig später mit den "bürgerlichen Romanen" über seine Rostocker Familie zum Auflagenmillionär wurde, katapultierte ihn endgültig ins Aus, denn hohe Auflage deutete auf "triviale Literatur" hin, und die wurde als reaktionär verfemt. Erst mit seinen historischen Collagen in den Echolot-Sammlungen drehte der Wind, aber da waren die Reiz-Reaktionsmuster bei Kempowski und seinen Gegnern schon fest eingeschliffen. Der Verspätete wähnte sich als ewig Zukurzgekommener, und damit begann ein unproduktives Missverständnis, dass sich als roter Faden durch Kempowskis Werk und dessen Interpretationen zieht.

Von Florian Felix Weyh | 04.05.2004
    Kein leichtes Gelände für eine Biographie zu Lebzeiten, die zum 75. Geburtstag von Kempowskis langjährigem Mitarbeiter Dirk Hempel vorgelegt wird. Der balanciert auf dem schmalen Grat zwischen objektiver Fremdwahrnehmung und Vereinnahmung durch die machtvolle Subjektivität des Portraitierten. Im Ganzen ergibt das ein leicht verwackeltes Bild. Einerseits weist Hempel das gekränkte Lamento des Jubilars immer wieder in seine Schranken, indem er etwa alle Preise und Ehrungen aufzählt, die seit Mitte der 90er Jahre auf Kempowski niederregneten. Andererseits betont er aber immer wieder das Debakel der Verkennung durch den Literaturbetrieb: nur drei Dissertationen, und dann bloß von abseitigen Auslandsgermanisten! Kein Büchnerpreis! Jahrzehnte lange politische Verfolgung durch links gestrickte Kritiker! Dabei unterläuft Hempel jener Fehler, der typisch für Kempowskis Selbstwahrnehmung ist: Er setzt den Autor in Relation zur verhassten Konkurrenz, indem er ihn schon auf Seite 24 zu "einem der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart" kürt, obwohl die dann folgende Biographie dessen Ausnahmestellung beweist, mithin seine Unbewertbarkeit im Rahmen gängiger Prädikate.

    Nur wer im Literaturbetrieb mitmacht – vor allem: zum Mitmachen zugelassen wird –, kann sich in dessen Bezugssystem verorten; Kempowski gehörte nie dazu. Das ist kein Makel, sondern ein Zeichen der Besonderheit, die von den Gegnern freilich stets als absonderlich denunziert wurde. Literaturkurse für Hobbyautoren im heimischen Nartum, reformpädagische Ambitionen bis ins letzte Fingerglied, zwanghafter Sammeltrieb fremder Autobiographien, Literatur als Zweig der Oral History – all das keine Themen, mit denen man die Anerkennung statusbewusster Kritiker und Hochschulgermanisten erwirbt. Genau das verweist auf die persönliche Tragik Kempowskis, der die Wiedergutmachung des Bautzener Unrechts weniger von der Politik als von einer anonymen Öffentlichkeit erwartete. Wie beim zwei Jahre jüngeren Rolf Hochhut wuchs mit jedem Verriss die verzweifelte Sehnsucht, doch noch eines Tages die Aufmerksamkeitsgipfel von Grass, Walser, Enzensberger zu erklimmen und als öffentliche Stimme nicht nur wahr-, sondern auch ernstgenommen zu werden. Das verleitete Kempowski zu einem Selbstmarketing, das einer planmäßigen Selbstbeschädigung gleicht. Er kann wohl nicht anders, nennt es selbst "seine Macken" und lebt sie weiterhin aus, wie kürzlich, als er Kanzler Schröder dessen vier Ehen vorhielt und dem Politiker die Kempowskische Monogamie als vorbildlich pries. Wer wollte das schon wissen?

    Dieses faszinierende Spannungsfeld zwischen einem manischem Kommunikator und seinen gleichzeitig verunglückten Pirouetten in der Öffentlichkeit spart der diskrete Biograph Hempel fast völlig aus. Seine gesellschaftlichen Analysen sind nicht falsch, erklären aber bloß die Hälfte. Kempowski ist eben keiner, der lediglich auf Anfeindungen reagierte, sondern ein Querkopf, Eigenbrötler, Prediger in eigener Mission, dem anzuecken in die Wiege gelegt wurde. Die gesellschaftlichen Ursachen dürften dabei weitaus geringer zu veranschlagen sein als Kempowskis sperrige Persönlichkeit. Wer sie umfassender kennen lernen will, muss neben der gefälligen Biographie mindestens die beiden Tagebücher "Sirius" und "Alkor" lesen, die zusammengefasst den Titel "Egolot" verdient hätten. Irgendwann begreift man dann, dass all diese narzisstischen Präliminarien nötig waren, um das vom Autoren-Ich befreite Jahrhundertwerk "Echolot" kompilieren zu können. Dafür gebührt Walter Kempowski der Dank seiner Nachgeborenen. Eines Tages wird eine Biographie erscheinen, die frei von den vergänglichen Themen Eitelkeit und Verkennung den wahren Nerv des Œvres herauspräpariert: Geschichtsversessenheit.

    Dirk Hempel
    Walter Kempowski
    btb, 302 S., EUR 9,50