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Schmerz im Gehirn

Alle mentalen Zustände werden von neurobiologischen Prozessen im Gehirn realisiert. Dem Autoren Searle ist hier nicht zu widersprechen. Über die jeweiligen konkreten Inhalte des Prozesses aber vermag die Hirnforschung keinerlei Auskunft zu geben. In Searles "Buch Freiheit und Neurobiologie" finden sich hier doch bisweilen extreme Verallgemeinerungen.

Von Bernd Mattheus | 29.03.2005
    "...ich ist ein anderer." Mit diesem Ausruf hatte der frühvollendete Dichter Arthur Rimbaud ein Projekt benannt, dem sich die avancierten Künste bis heute widmen sollten. Insbesondere die Surrealisten gingen experimentell der Frage nach, was Kreativität sei, entschlackt vom tradierten Genialitätsmythos. Erzählen im willentlich herbeigeführten Trancezustand, Traumprotokolle, kollektive Arbeiten, automatisierte Formen des Schreibens und Malens zielten auf den Ausschluß der Vernunftkontrolle, also des bewussten Gestaltens.

    Nicht zufällig erinnern die Methoden an das freie Assoziieren, das zur Grundregel der psychoanalytischen Praxis wurde. Künstler wie Therapeuten entdecken zu Beginn des 20. Jahrhunderts fasziniert die Nachtseite der Vernunft, um Rimbauds Diktum zu bestätigen. Für den, der es vernehmen wollte, haben diese Erkenntnisse das Menschenbild fundamental verändert. Natürlich eint eine künstlerische Praxis mit einer Therapie, hier Freuds aus der Traumdeutung abgeleitete Psychoanalyse, allein der Freiheitsgedanke bzw. das Versprechen auf Befreiung durch Einsicht.

    Noch älteren Datums sind die Konzeptionen einiger französischer Aufklärer, die in ihrem Nihilismus den Menschen zur Maschine, zum Automaten erklärten. La Mettrie oder der Baron von Holbach konnten ihre Thesen allerdings nur anonym veröffentlichen - ihr Generalangriff auf das beseelte Wesen aus Gottes Hand war zu ketzerisch für die Zeit. Denn dieser radikale Materialismus propagierte ja, daß für eine Mensch-Maschine moralische Maßstäbe nicht mehr länger gültig wären. Sie handelte nach dem Vorbild der Natur, jenseits von gut und böse.

    Es entsteht der Eindruck, als würde die Philosophie im Abendland niemals über den Stand der jeweiligen Technik resp. naturwissenschaftlicher Erkenntnisse hinausgehen. Die Mensch-Maschine im Zeitalter der Mechanik wird abgelöst in der Epoche der Elektronik und der Digitalisierung vom kybernetischen Modell des homo sapiens als eines Automaten oder Rechners, mehr oder weniger intelligenten Computers. Die Genforschung schließlich verlieh der biologistischen Schule der Anthropologie ein kaum zu erschütterndes Fundament.

    In seinen zwei Vorlesungen, im Jahre 2001 an der Sorbonne gehalten, formuliert der amerikanische Philosoph John R. Searle einige Hypothesen, die sich ausdrücklich auf neurobiologische Forschungen beziehen. Sie betreffen die Problemfelder Willensfreiheit, Bewußtsein, Selbst.

    Zur "Lösung" des Leib-Seele-Problems bietet Searle die Hypothese an, daß es für jedes Empfinden eine neurobiologische Deutungsebene, eine neuronales Korrelat gebe: "Alle unsere mentalen Zustände sind von neurologischen Prozessen im Gehirn als Systemeigenschaften einer höheren Ebene realisiert. Wenn Sie beispielsweise einen Schmerz verspüren, wird Ihr Schmerz von Sequenzen neuronaler Entladungen verursacht, und die wirkliche Realisierung der Schmerzempfindung findet im Gehirn statt."

    Dem Autor ist nicht zu widersprechen, er dürfte aber in Beweisnot geraten, wenn es sich um Phänomene wie Phantomschmerzen oder Schmerzunempfindlichkeit von Fakiren z.B. handelt. Moderne Bild gebende Verfahren ermöglichen es zwar, zu lokalisieren, welche Hirnbereiche aktiviert werden, wenn wir etwas tun, wünschen, denken, fürchten etc. Über die jeweiligen konkreten Inhalte des Prozesses aber vermag die Hirnforschung keinerlei Auskunft zu geben. Gleichwohl verleitet der dürftige Stand der Forschung Searle zu dem - eigentlich tautologischen - Postulat, daß Bewusstsein eine biologische Eigenschaft des Gehirns sei. Es wäre keine nicht-lokalisierbare Meta-Instanz, sondern: "Bewusstsein ist in bestimmten Bereichen des Gehirns lokalisiert und hat in bezug auf diese Bereiche eine kausale Wirkung."

    Die extremen Verallgemeinerungen des Philosophen, der sich zum Anatom macht, differenzieren nicht mehr zwischen Gehirn, Geist, Bewußtsein oder gar Weisheit. Die Aspekte Reflexion, Kreativität, Urteilsfindung, Verantwortlichkeit, Gewissen reduziert Searle auf einen Input und Output von Reizen, d.h. Informationsverarbeitung und Handeln gemäß dem Computer-Paradigma: "Wir sind bewusste Roboter, deren Bewusstseinszustände durch neuronale Prozesse bestimmt sind, und zugleich verfahren wir manchmal anhand von nicht derterministischen bewussten Prozessen (und somit neuronalen Prozessen), in denen wir als rationale Selbste Entscheidungen nach Gründen treffen."

    Immerhin gesteht uns Searle im begrenzten Rahmen vernünftigen Denkens und Handelns gelegentlich noch Autonomie zu, aber dieses Modell vom Menschen als eines Bioroboters unterschlägt wesentliche Facetten, die ihn ausmachen. Er ist nicht bloß homo sapiens, homo faber, sondern auch das vom Irrationalen, von der Willkür, seinen Wünschen, Träumen, vom Unbewußten geleitete Wesen.
    Der Reduktionismus von Neurophysiologen wie Wolf Singer, Gerhard Roth oder Wolfgang Prinz blendet ekstatische wie auch wahnhafte Phänomene merklich aus. Nicht zuletzt fragt es sich, welcher Gewinn mit der totalen Infragestellung des cartesischen Cogito verbunden sein könnte. "Ich werde gedacht, werde gelebt?"

    Die überzeugende Demontage unserer Spezies gelingt auch Searle nicht wirklich. Der Mensch definiert sich günstigstenfalls durch Plastizität von Geist und Bewußtsein, durch spirituelle, metaphysische Dimensionen, durch kreative Fähigkeiten oder Ambitionen, die nicht selten der Ratio widersprechen. Wir sind die Krankheit der Natur, die permanente Abweichung von der Norm. Georges Bataille bekräftigte dies einmal mit einem gleichsam pervertierten Bibelzitat: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein - sondern vom Gift." Sollte der Mensch nichts als ein Spielball seiner Neuronen, Gene, Hormone sein? Es liegt an ihm, dem ein "ich ist ein anderer" entgegenzusetzen.

    John R. Searle: "Freiheit und Neurobiologie"
    Suhrkamp Verlag