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Schmerzhaft aktuell

"Piercing" ist eindringlich. Geprägt von unterdrückter und schließlich ausgelebter Gewalt gegen den Anderen. Geboren aus den traumatischen Lernmustern der Kindheit. Dargeboten von zwei Protagonisten, deren Fantasien für uns abartig erscheinen, die aber für beide das einzig bleibende Ventil sind.

Vorgestellt von Imogen Reisner | 12.06.2009
    Mit seinen Texten betätigt sich der 56-jährige Murakami als Chronist des modernen Großstadtlebens in Japan. Er gilt als Enfant terrible der japanischen Literatur, da er auf drastische Weise die Vermarktungsformen kapitalistischen Lebensstils in den urbanen Zentren thematisiert. Eines seiner Schlüsselthemen ist die Unterwerfung des menschlichen Körpers in einer durch und durch materialistisch ausgerichteten Gesellschaft. Sein Spielfilm "Tokio Dekadenz" erregte in diesem Zusammenhang 1992 internationales Aufsehen.

    Dass Murakami auch Filme macht, prägt augenfällig auch seine Prosa. Im Wechsel von eindringlichen Zooms und Totalen schildert Murakami in seinem Roman "Piercing" die Begegnung eines Mannes und einer Frau während einer einzigen Nacht in einem Tokioter Hotel. Bevor der fatale Pas de Deux in hart geschnittenen Szenen exzessiver Gewalt kulminiert, erfährt der Leser in Rückblenden von der traumatischen Vorgeschichte der beiden Hauptfiguren.

    Der Roman beginnt mit einer verstörenden Nachtszene, einem abgründigen Blick in die seelische Gemütslage des Protagonisten. Kawashima, ein junger Graphikdesigner, steht um Mitternacht schweißgebadet mit einem Eispickel an der Wiege seiner neugeborenen Tochter. Nur mit nahezu übermenschlicher Anstrengung kann er sich selbst davon abhalten, das Mordwerkzeug in die durchscheinend zarte Haut seines Babys zu stoßen. Es sind die alten Dämonen einer albtraumhaften Vergangenheit, die ihn seit Tagen regelmäßig heimsuchen, ihn immer stärker bedrängen. Um diesem krankhaften Verlangen ein für alle Mal Herr zu werden, beschließt Kawashima, stellvertretend für seine Tochter eine Prostituierte zu ermorden. Er hofft, mit diesem befreienden Akt seine quälende Obsession, einen Eispickel in makellos weiße Haut zu stoßen, für immer zu neutralisieren. Schließlich hat er eine Menge zu verlieren: eine bürgerliche Existenz nämlich, die er nie für möglich gehalten hatte. Es ist Yoko, seine hübsche bodenständige Frau, die sich einfühlsam darum bemüht, ihren Mann die Schrecken seiner Kindheit vergessen zu lassen. Was ihr größtenteils gelingt – bis auf den unkalkulierbaren Rest, der zur Triebfeder von Murakamis Geschichte wird. In ihrem gemeinsamen zur Backstube umfunktionierten Wohnzimmer vermehrt Yoko darüber hinaus das Familieneinkommen, indem sie fremden Menschen beibringt, Brot und Kuchen zu backen.

    Der Duft von Butter, der die ganze Wohnung erfüllte und sogar bis ins Schlafzimmer drang, war für Kawashima der Inbegriff von Glück.

    Ein Glück freilich, das die Fragilität eines utopischen Lebensentwurfs besitzt: die Idee romantischer Bürgerlichkeit in einer pervertierten Gesellschaft. Es ist das absolute Kontrastprogramm dessen, wovon uns Murakami in "Piercing" tatsächlich erzählt.

    Denn auch Kawashimas Gegenüber, die junge Prostituierte Chiaki Sanada, betritt die Bühne stigmatisiert von frühkindlicher Gewalt. Auch sie ist von Obsessionen beseelt, die denen ihres Kunden an Skurrilität und Drastik in nichts nachstehen – nur laufen sie in eine völlig andere Richtung.

    Im zehnten Kapitel, dem 90 Seiten starken Herzstück des Romans, treffen Kawashima und Chiaki in einer tödlichen Bedrohung aufeinander. Indem der Autor in einem unablässigen Wechsel von der dritten in die erste Person die erzählerische Perspektive verändert, verdichtet er einerseits den Blick auf die Gefühlswelt des jeweiligen Akteurs beziehungsweise der Akteurin. Gleichzeitig überkreuzt er damit auch den Blickwinkel beider Protagonisten auf die jeweilige Situation. Da aber beide Vorstellungswelten nicht komplementär sind, entsteht eine konfrontative Dynamik, die einen Großteil des Reizes ausmacht, den "Piercing" auf den Leser ausübt. Am Ende verwischen sich die Grenzen zwischen Täter und Opfer, zwischen Ursache und Wirkung.

    "Piercing" – eindringend, durchbohrend, durchstechend, heißt es im Wörterbuch. In Murakamis Roman steht "Piercing" für gewalttätige körperliche Eingriffe, für Selbstverstümmelung, für schreienden Schmerz. Es ist die verstörende Geschichte zweier gespaltener Persönlichkeiten, deren Schicksale Murakami für die kurze Zeitspanne einer Nacht miteinander verschlingt, um ihren Gewalt- und Sexualphantasien auf den Grund zu gehen: ungeschminkt, kaltblütig, detailversessen und lakonisch. Seine beiden Helden – so offenbaren sie sich dem Leser – sind Autisten, sie leben ausschließlich in ihrer eigenen Vorstellungswelt. Ihre Gewalttätigkeit erscheint als einzig mögliche Form, einen winzigen Zipfel ihrer Träume zu retten.

    Die meisten von Murakamis Figuren sind an Leib und Seele Versehrte, Opfer traumatischer Kindheitserfahrungen. Sie sind hilflose Täter, die mit monomanischer Triebhaftigkeit ihren Obsessionen folgen.

    Kinder sind machtlos,

    heißt es an einer Stelle in "Piercing".

    Mit aller Verzweiflung suchen (sie) die Liebe ihrer Eltern. Eher würden sie sich selbst hassen als ihre Eltern. Liebe und Gewalt sind so miteinander verquickt, dass man in späteren Beziehungen seinem Partner paradoxerweise nur noch in einem ähnlichen Muster begegnen kann, um seelischen Frieden zu finden.

    Murakamis drastisch bebildertes Kammerspiel atmet die verstörende Atmosphäre eines Haneke-Dramas. Wie der österreichische Filmemacher zielt der japanische Autor bewusst auf Irritationen, indem er den Subtext allgegenwärtiger Gewalt in unserer Gesellschaft ins Bild setzt. In seiner sprachlichen Ästhetik erinnert "Piercing" an die exzessiv-bedrängenden Bilder des Tokioter Nachtlebens aus dem Globalisierungsfilm "Babel". Ein Prosastück, das trotz der 15 Jahre seit seiner Erstveröffentlichung schmerzhaft aktuell ist.

    Ryu Murakami, "Piercing". Roman.
    Aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
    Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2009-04-06
    174 Seiten, 16,90 Euro