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Schmerzmittel aus dem Rechner
Wie Mathematiker neue Medikamente entwickeln

In den USA fordern schmerzstillende Opiate - also Medikamente - mehr Menschenleben als Heroin und Kokain zusammen. Forscher aus Berlin konnten nun eine Struktur des Wirkstoffs Fentanyl entwickeln, die dessen gefährlichen Nebenwirkungen vielleicht eindämmen könnte.

Von Anja Krieger | 25.07.2016
    Drei Flaschen Fentanyl in einem Notfall-Paket
    Marcus Weber ist bemüht, die Nebenwirkungen von Fentanyl einzudämmen (Franziska Kaufmann / dpa)
    "Dass ich als Mathematiker an Schmerzmitteln arbeite, das ist tatsächlich sehr seltsam, das gibt’s nicht so oft."
    Marcus Weber vom Zuse-Zentrum in Berlin will die Nebenwirkungen des Schmerzmittels Fentanyl reduzieren. Das Opiat lindert Schmerzen, indem es an die Morphin-Rezeptoren im Körper andockt. Weil das aber nicht nur dort, sondern auch im Gehirn und Darm geschieht, kommt es oft zu gefährlichen Folgen, von Verstopfungen über Bewusstlosigkeit bis zu Atemausfall. Das Medikament macht leicht süchtig, und im schlimmsten Falle droht den Patienten der Erstickungstod. Marcus Weber hat deshalb in Zusammenarbeit mit dem Universitätskrankenhaus Charité das Molekül des Wirkstoffs umgebaut.
    "Wir haben das Fentanyl so verändert, dass dieses Schmerzmittel nur noch an den Stellen im Körper andockt, wo eine Entzündung vorliegt, aber im Gehirn oder Darmbereich dockt dieses Mittel nicht an, weil es da eben keine Entzündung gibt, und dadurch kommen die Nebenwirkungen nicht zustande."
    Noch ist das nur im Tierversuch erprobt. Wo Entzündungen und damit auch die meisten Schmerzen sind, funktionieren die Rezeptoren anders als in gesundem Gewebe. Marcus Weber und sein Team von der Arbeitsgruppe "Computational Molecular Design" haben sich diese Erkenntnis zunutze gemacht, um die Struktur von Fentanyl zu verändern. Dazu haben sie in einem ersten Schritt die Interaktion zwischen Rezeptor und Wirkstoff im Computer simuliert.
    "Man hört ja oft von dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Also man sucht für den Rezeptor das Schloss, einen Schlüssel, das wäre das Wirkstoffmolekül, und das passt zusammen - das hört sich sehr geometrisch an. Aber in Wirklichkeit ist das nicht ein geometrisches Problem, sondern dieses Schloss ist eher wie Wackelpudding, während der Schlüssel so wie eine Nudel ist, und es bewegt sich halt alles."
    Dass der Wirkstoff an den Rezeptor andockt, passiert dabei so selten, dass sogar Großrechner an ihre Grenzen kommen. Die Herausforderung für die Mathematiker lag deshalb vor allem darin, einen neuen, schnellen Rechenweg zu entwickeln. Dabei wurden gleichzeitig mehrere Molekülzustände auf einmal simuliert.
    "Die interessanten Bewegungen finden auf einer sehr viel langsameren Skala statt als die Simulationszeiten. Würde man mit einem großen Rechner versuchen, eine Sekunde Echtzeit zu simulieren, dann braucht man womöglich Hunderte von Jahren."
    So fanden die Berliner Forscher schließlich heraus, dass es ausreicht, ein einziges Wasserstoff-Atom in Fentanyl durch ein Fluor-Atom zu ersetzen. Damit lassen sich die gefährlichen Nebenwirkungen, auch die Suchtgefahr, ausschalten. Marcus Webers zweite Leidenschaft, die Chemie, brachte sie auf die richtige Spur.
    "Auf die Idee, warum man das Atom ersetzt, das war vielleicht meinem Chemiestudium geschuldet, weil ich hab neben Mathematik, was ich eigentlich hauptsächlich betreibe, auch ein Chemiestudium begonnen, das war mein Nebenfach dann am Ende, und von diesem Chemiestudium wusste ich welche Eigenschaften Atome haben, so bin ich auf die Idee gekommen Wasserstoff durch Fluor-Atom zu ersetzten."
    Mit der kleinen Veränderung wollen die Forscher die Nebenwirkungen des Fentanyl ausschalten. Denn das Fluor-Fentanyl wird nur in entzündetem Gewebe aktiv, wo ein geringerer PH-Wert herrscht. In gesundem Gewebe verliert das Fluor-Fentanyl seine positive Ladung und dockt nicht an den Morphin-Rezeptoren an. Nach der digitalen Erfindung haben die Forscher das Fluor-Fentanyl im Labor hergestellt und in ersten Versuchen mit Ratten getestet. Ob und wann der neue Wirkstoff auf den Markt kommt, ist unklar. Denn zunächst steht der kostspielige Test am Menschen an. Einen Investor dafür muss Marcus Weber erst noch finden.