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Schönster Platz am Gardasee

Am Gardasee in Italien gibt es ein Fleckchen, das sich, ohne zu erröten, den "schönsten Ort der Welt" nennt: Punta San Vigilio ist eine kleine vorspringende Landzunge mit einer Renaissance-Villa, umgeben von einem großzügigen Park mit blühenden Blumenrabatten und Zitronenhainen. Seit 1538 finden hier prominente Gäste einen Ort der Ruhe und Muße, und Dichter und Maler eine Quelle der Inspiration.

Von Franz Nussbaum | 24.03.2008
    Der Frühling regt die Sinne an, Augen und Nase. Es blühen Veilchen, Magnolien. Man riecht die rosa und weißen Blüten, Fliederbüsche natürlich, Narzissen, Kamelien, Kastanien. Und im Hintergrund das Glöckchen der kleinen Kirche San Vigilio. Wir gehen über eine lange, schattige Allee. Sie wird von immergrünen Zypressen gesäumt und führt uns zum Eingangstor des Landsitzes hinunter. Die Zypressenallee ist für Autos gesperrt. Nur Elektrokarren surren schon mal mit Hotelgepäck vorbei.

    Zypressen, lese ich, seien Symbole des "Jenseits", des Todes. Und dann liegt hier so ein mächtiger Zypressenstamm, vom Sturm oder aus Altersschwäche umgestürzt, am Boden. Und er liegt so da, als wäre er, einem Toten gleich, "aufgebahrt". Vielleicht ist auch Zypressen ein Platz im Paradies, im Jenseits versprochen?

    Im Paradies standen ja auch Bäume, so jedenfalls haben es uns die Künstler der Renaissance, Albrecht Dürer beispielsweise, ausgemalt. Und Zypressen, die 300 oder 400 Jahre lang, hier auf San Vigilio, am angeblich schönsten Ort der Welt "gelebt" haben, denke ich, und die als Stammbaum viele kleine Zypressen haben aufwachsen sehen... - die haben ja auch ein erfülltes Leben gehabt.
    Von hier oben geht unser Blick auch auf das Postkartenblau des Lago di Garda unter uns. Eine leichte Brise treibt einige Segelboote auf in die Mitte des Gardasees hinaus. Vor rund 100 Jahren träfen wir hier zu Ostern auch den deutschen Dichter Paul Heyse an. Heyse ist uns im Namen kaum noch geläufig. Dabei ist Paul Heyse im Jahre 1910 als erster Deutscher mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet worden. Und er fängt uns die Frühlingsstimmung des Tages mit seinem Gedicht "Mittagsruhe" ein:
    "Goldener Nebelsonnenduft
    überhaucht Gebirg und Flur
    Droben steht ein Wölkchen nur
    in windstiller, reiner Luft
    Auf dem See ein Fischerkahn
    mit den Segeln gelb und blau,
    draufgemalt die Himmelsfrau,
    zieht wie träumend seine Bahn.
    Leis am Ufer gluckst die Flut,
    und der Kummer, der zur Nacht
    mich um meinen Schlaf gebracht,
    hält den Atem an und ruht."

    Ein Gedicht aus Paul Heyses Zyklus "Frühling am Gardasee". Und in der Hand halte ich ein Foto, es zeigt diesen Paul Heyse in einem Ruderboot auf dem See. Und Heyse verarbeitet seine Eindrücke, unter anderem auch eine dramatische Flucht in einem Ruderboot, in seiner Liebesgeschichte "San Vigilio", die er im Jahre 1900 schreibt.

    Und es ist also - damals - so eine Art Nobeltourismus, die Dichter und Maler und gelangweilten deutschen Adel für Monate hierher an den Gardasee zieht und denen wir - heute- eine genaue Beschreibung dieses Fleckchens auf der Punta San Vigilio verdanken.

    Denn die zweistöckige Renaissance-Villa, die sehen wir zwar, aber sie ist durch Mauern und mit einem Eisentor für Besucher gesperrt. Privatbesitz. Als vor 10 Minuten hier einige samt Rucksäckchen auf ein Mäuerchen kletterten, um von dort einen besseren Foto-Blick der Villa oder ihrer Bewohner zu erhaschen, da verscheucht jemand in barschem Italienisch die Paparazzi.
    Zurück in die Zeit um 1540, vor knapp 500 Jahren. Unruhige Zeiten. Reformation, die von den Alpen aufgehalten wird. Zur gleichen Zeit macht ein Agostino Brenzoni ein gutes Erbe und lässt sich dieses opulente Anwesen bauen. Dr. Herfried Schlude, der auch selber hier am Gardasee lebt:
    "Dieses Erbe hat es ihm ermöglicht, in Verona Jura zu studieren. Agostino wurde in Venedig ein sehr beschäftigter Rechtsanwalt, sowohl in Zivilsachen, als auch hauptsächlich in Strafsachen. Und konnte sich im Jahr 1538 diesen Landsitz leisten. Agostino Brenzoni ist bekannt geworden nicht nur durch seine juristische Tätigkeit, sondern vor allem als Humanist. Alle seine Freunde, wie Pietro Vendo, Pietro Aretino, waren Humanisten. Und diese Villa, vor der wir nun stehen, die strahlt also diesen humanistischen Geist Brenzonis aus."

    Also ein Advokat ist doch eher so ein Aalglatter, der eine Menge juristischer Tricks kennt. Irgendwie haben sie nicht direkt das Nummerschild des Humanisten...

    "Ja, also dieses Bild auf Agostino übertragen, ist nicht ganz richtig. Er hatte viel zu tun und gelegentlich ganz sicher das Bedürfnis, sich von den, sagen wir, Angelegenheiten der Welt, wie sie ihm jeden Tag über den Schreibtisch kamen, zurückzuziehen. Und dieses Bedürfnis des Wieder-zu-sich-selber-Findens,
    wieder zum Menschtum finden, genau dieses hat er sich nun hier in Punta San Vigilio erfüllt."

    War es vielleicht so eine Wechselwirkung, ein paar Tage hier, dann musste er wieder nach Venedig zu den Staatsangelegenheiten?

    "Eine Wechselwirkung. Das Konzept der Villa wurde schon von den Römern erfunden. Die wichtigen Römer hatten gelegentlich das Bedürfnis, sich zur Muße, man nannte das Odium, zurückzuziehen. So ist die römische Villa entstanden. Nach den Römern kamen die Barbaren. Die Leute haben sich nur noch Burgen gebaut. Das Konzept der Villa kannte man gar nicht mehr. Und diese Idee wurde von Agostino Brenzoni aufgegriffen. Das muss man wissen, um diese Villa und die ganze Anlage überhaupt zu verstehen."
    Die Konzeption, sie beginnt ja schon mit dieser Zypressenallee. Dann die Anlage verschiedener Parks, mythologischer Skulpturen. Und wir werden auch noch die feine Note des Humanismus hinterfragen. Wir sehen hier an diesem verschossenen Tor auch ein Wappen, eine goldene Krone und darunter einen Löwen mit erhobener Tatze.
    "Die Krone darüber zeigt an, dass der Eigentümer adelig ist. Es handelt sich um eine Grafenkrone. Und der derzeitige Besitzer, der Graf Guillermo Guarienti ist immerhin der Schwiegersohn der ältesten Tochter des letzten Italienischen Königs
    Viktorio Emanuele III. Das Wesen dieser Villa ist tatsächlich ihre elegante Einfachheit. Es sind zwei Geschosse. Ein verhältnismäßig einfacher einzelner Eingang. Der Eingang führt zu einer roten Blumenrabatte: Das sind die Salbeipflanzen. Links und rechts vor der Villa stehen zwei riesige Fächerpalmen. Wenn man mit dem Schiff die Villa vom See aus sieht: Die Seeseite ist gebildet
    aus Bögen, was die Italiener Loggen nennen. Das ganze Erdgeschoss besteht aus sieben dieser Loggenbögen. Und das zweite Geschoss ebenso."
    Vor allem also von der Seeseite her, die man aber nur mit einem Boot einsehen kann, entspricht diese Villa wegen der typischen venezianischen Bögen unseren Vorstellungen eines Renaissance-Bauwerkes. Auch mit den Stufen, die zum See führen und mit reichem Blumenschmuck. Und wir sehen hier an der Mauer eine Büste, die den damaligen Hausherrn Agostino Brenzoni darstellt. Dazu eine Tafel, gewissermaßen die Hausordnung von 1540.
    "Ich kann Ihnen die ersten drei vorlesen: Die erste: 'Gott, den Besten und Größten, verehre im heiligen Hause'. Dieses heilige Haus ist eben sein Haus. Dann: 'Lass' die Sorgen der Stadt zu Hause'. Und das ist der Inbegriff des Grundgedankens des ganzen Anwesens. Dritte Regel: 'Hurerei und was dergleichen noch ist, wirf' von dir'."

    Zwölf Gebote, die für die Besucher gelten...

    "Und eine Besonderheit dieser Anlage der Punta San Vigilio. Jeder Garten hat gewissermaßen sein eigenes Patrozinium. Es gab einen Apollogarten, es gab hier diesen Venusgarten, es gab einen Adamgarten. Interessant ist die Inschrift, die wir über dem Eingang zum Venusgarten hier sehen. Sie greift einen Gedanken auf: das Bittersüße der Liebe.

    Jeder, der einmal von der Liebe befallen war, weiß, das ist kein pures Honigschlecken, sondern es hat solche Seiten und solche Seiten. Das Symbol dieser Bittersüße der Liebe war die Zitrone. Man sagt, die Zitrone ist zugleich süß und bitter. Und so sehen wir diesen Spruch, der also lautet: 'Diese duftenden Gärten und Zitronen hat Venus gepflanzt.'"
    Und im Venusgärtlein sind Venus und ihr Adonis, das antike Liebespaar abgebildet. Und es wird also, mit Inschriften Brenzonis, deren bittersüße Leidenschaft erzählt. In etwa begreift man etwas vom "Humanismus", den wir aber 1538 ja auch im Geiste der Renaissance schon sehen müssen.

    Humanismus, der sich von der kirchendogmatischen Bevormundung löst und wieder den antiken Idealen huldigt. Und Johann Wolfgang Goethes "Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühen?", das bekommt für mich eine ganz neue Dynamik. Auch mit folgender Inschrift:
    "'Mit des Jünglings Tränen hat Amor selbst diesen Garten begossen.'
    Und dann kommt der Clou des Spruchs:
    'Süß und bitter zugleich,
    von eisiger Kälte und glühend,
    wachsen die Früchte.
    So wächst die Liebe in unserer Brust.'"
    Die süße Hoffnung in der Brust rudert Johann Wolfgang Goethe im September 1786 mit seiner Begleitung am Vormittag einige 100, vielleicht 1000, Meter entfernt hier an dieser Punta San Vigilio vorüber. In Bardolino besteigt er eine Kutsche, in Rom findet Goethe seine Liebe. Und er erwähnt die Punta in seiner "Italienischen Reise" mit keinem Satz. Obwohl hier seine Zitronen blühen.

    Und noch eine Bemerkung zu dem Namen "San Vigilio". Ein Bischof Vigilio hat um 400 den Gardaseeraum christianisiert, und ihm ist auch hier, bei diesen Zitronen, das kleine Kirchlein geweiht, an sich auch verschlossen. Darin kann man sich heute für sündhaft teures Geld trauen lassen. Wenn man nicht nur mit Zitronen gehandelt hat.

    Wir kommen über eine grob gepflasterte Gasse zu dem kleinen Hotel, das Agostino Brenzoni auch schon für seine Gäste damals hatte anlegen lassen. Im kalten Januar 1903 weilt Heinrich Mann, der vier Jahre ältere Bruder von Thomas Mann, in diesem Haus. Er ist 32 und notiert:
    "Ich bin auf dieser kleinen Landzunge in landschaftlich schöner Natur und im Schutze einer zerbröckelnden Renaissance-Villa, der einzige Gast. Die Einsamkeit fördert die Konzeption meines Romans. Das Gasthaus war noch unbewohnt. Niemand kam im Januar nach San Vigilio. Es brauchte viel Zeit, die nie geheizten Räume zu erwärmen. Wie stolz und schwermütig setzt der Palast seine Stufen ins Wasser. In einem starren Bogen schritten Zypressen um das Ufer her."
    Heinrich Mann verarbeitet seinen Aufenthalt von 1903 hier auf dieser Punta in seinem Roman "Die Jagd nach Liebe". Und das spielt dann eben hier auf San Vigilio. In Heinrich Manns Dialogen ist auch diese mythologische, diese bitter-süße "Zitronengeschichte" aus dem Venusgärtlein mit einverwebt. Heinrich Mann soll hier auch schon die Figuren des späteren Romans "Professor Unrat", verfilmt im "Blauen Engel", und ebenso auch seine bitterböse Parabel "Der Untertan" hochschwanger mit sich umhergetragen haben.
    Eine hier am Hotel seitlich angebrachte Bronzetafel weist darauf hin, dass hier auch der spätere deutsche Nobelpreisträger Otto Hahn im Jahre 1913 seine Flitterwochen mit der Malerin Edith Junghans erlebt. Otto Hahn ist 1913 noch ein junger Chemieprofessor von 34 Jahren. Und dieses kleine, aber heute teure Hotel hat nur sieben Suiten. Andere Gästenamen, nur eine kleine Auswahl: Winston Churchill, Laurenz Olivier, Siegmund Freud. Staatspräsidenten, darunter Richard von Weizsäcker und Roman Herzog. Europäische Könige, Prinzen und Gespielinnen.
    Direkt am Hotel beginnt ein kleiner hufeisenförmiger Hafen. Er reicht für gerade mal fünf, sechs Boote. Eine schmale Mole, grade breit genug für vielleicht zehn Tischlein unter schattigen Platanen. Nun ein Schauspiel in einem Akt niedergeschrieben:
    "Eine Motorjacht, ganz aus Mahagoni, gleitet in den Theaterraum. Alle Blicke zieht eine Bikinischöne auf sich, die am Bug posiert, unbeweglich als wäre sie aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett entfleucht. Am Steuer des Wasserfahrzeugs ein etwas bauchiger Typ, verspiegelte Brille, Goldkette in zwei Lagen um den Hals geworfen. Er pfeift und wirft einem Kellner, der ihn zu kennen scheint, die Leine zu. Dazu schlingt sich die Schöne ein buntes Tuch um Hüfte und Bikini und stakst über zwei Treppenstufen auf die schmale Mole, die sie nun als ihren Laufsteg benutzen will. Beide nehmen an einem reservierten Tischlein Platz. Prüfender Rundum-Blick ins Publikum, ob denn der Auftritt auch allseitig gefallen habe? Man bestellt etwas. Nach einer halben Stunde inszeniert das Paar den Abmarsch, gleiche Choreografie wie gehabt. Der Motor jault auf. Ein hochtouriger Schickeria-Abgang."
    Setzen wir dieser Szene einer anderen Beschreibung entgegen. Der Dichter Johann Jakob Heinse, aus Düsseldorf, kommt vor 225 Jahren, drei Jahre früher als der große Goethe, auch hier an den Garda-See und notiert uns in seinem "Tagebuch einer italienischen Reise":
    "Der See liegt da im Morgenduft und die Berge im dünnen Nebel. Ein leises Wehen kräuselt in der Mitte die Wellen und macht ihn lebendig und weckt seine Schönheit. Eine Barke wallt leicht mit voll geschwelltem Segel darüber hin. Und die dünnen Wölkchen schweben still um den heiteren Raum des Äthers, worin Vögel entzückte Flüge zur Lust machen. Der See ist wirklich einer der schönsten, die ich je gesehen habe, so majestätisch und mit vielem Farbenspiel und Licht und Schatten erhebt sich das Gebirge."
    Das ist so etwa die Farbenlehre von Punta San Vigilio. Ein Ort zwischen Zitronen und Zypressen, zwischen Humanismus und auch hochtourigen Schickimicki-Inszenierungen. Gleichwohl ein Fleckchen, das Schriftsteller und Künstler immer inspiriert. Und vielleicht ist es der Zeitsprung von der späten Renaissance zum Heute, wo interessante Leute, Nobelpreisträger, Präsidenten, sich hierher zurückziehen.

    Der Literatur Nobelpreisträger Paul Heyse schreibt in einem Gedicht "und schließ' ich einst die Augen zu...": Wenn er ablebe, dann wünsche er sich, dass man ihm hier am Gardasee, anonym, ein stilles Grab aushebe, direkt unter den Zypressen. Im Land, wo die Zitronen blühen. Direkt hier am Ufer will er nur noch dem ewigen Rauschen der Wellen nachträumen...
    "Und schließ’ ich einst die Augen zu,
    nie wieder aufzuwachen,
    So gilt mir’s... gleich, wo man zur Ruh
    mir wird das Bette machen.
    Man grübe mir ein stilles Grab
    Dort unter den Zypressen,
    wo ich in sonnigen Träumen hab
    so manches mal gesessen.
    Im Norden sind die Nächte rauh,
    da schlottern die Gebeine.
    Hier unten weht die Luft so lau
    Nachts im Zypressenhaine.
    Da säß’ ich wieder in guter Ruh,
    an Garda-Sees Gestade
    und höre dem Rauschen der Wellen zu,
    dem Zirpen der Zikade."