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Schöpferische Arbeit in freier Natürlichkeit

Ernst Ludwig Kirchner revolutionierte Anfang des 20. Jahrhunderts die deutsche Malerei. Unter anderem gründete er den Künstlerbund "Die Brücke" mit. Nach dem Ersten Weltkrieg zog er sich traumatisiert ins Exil zurück, wo sein Leben ein tragisches Ende nahm.

Von Rainer B. Schossig | 15.06.2013
    "Auf der Akademie lernte ich das Aktzeichnen in akademischer Weise verwerfen. Ich arbeitete nur zu Hause in freier Weise. Oft stand ich mitten im Coitus auf, um eine Bewegung, einen Ausdruck zu notieren."

    So forsch lesen sich die Lebenserinnerungen Ernst Ludwig Kirchners, der die deutsche Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts revolutionierte. Am Ende aber umgaben Kirchner in seiner Schweizer Wahlheimat Frauenkirch bei Davos gespenstische Stille, Krankheit und Verzweiflung. Der Kunsthistoriker Lucius Grisebach, dessen Großeltern den Künstler kennengelernt hatten, gehört heute zu den führenden Kirchner-Spezialisten:

    "Er hatte sich ja ziemlich systematisch zugrunde gerichtet durch Medikamenten- und Alkoholmissbrauch, war dann in verschiedenen Sanatorien, und seine Freunde haben sich einfach Gedanken gemacht, was kann man tun, um diesen Prozess abzubrechen und ihn in Sicherheit zu bringen? Und so kam Kirchner im Winter 1916/17 nach Davos und ist er nach 14 Tagen gleich wieder wegen der Kälte geflüchtet und ist dann im Frühling endgültig nach Davos gekommen."

    1880 in Aschaffenburg geboren, begann Kirchner 1901 in Dresden Architektur zu studieren. Dann entdeckte er die Bilder Wassily Kandinskys und beschloss spontan, Maler zu werden. 1905 gründete er gemeinsam mit seinen Freunden Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff den Künstlerbund "Die Brücke":

    "Mit dem Glauben an die Entwicklung an eine neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden, rufen wir alle Jugend zusammen – und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt."

    Verfasser des streitbaren Manifests ist Ernst Ludwig Kirchner. Ihren Élan vital leben die Brückeleute auch praktisch, in "frei schöpferischer Arbeit in freier Natürlichkeit". Gemeinsam mit ihren Modellen, jungen Mädchen aus besseren Dresdener Familien, ziehen sie mit Leinwand, Farbe und Staffelei an die Moritzburger Seen. Und sie malen bald auch in der Großstadt: in Zirkus, Theater und Kabarett. Als die Gruppe sich 1911 auflöst, geht Kirchner nach Berlin. Dort entstehen seine legendären Tingeltangel- und Asphaltdschungel-Bilder, die er in der Kölner Sonderbund-Ausstellung zeigt: flammend-grelle Farben, rhythmisch-zuckende Formen. 1914 zieht er freiwillig in den Ersten Weltkrieg; traumatisiert flüchtet er bald darauf ins Davoser Exil:

    Im Abseits der Schweizer Bergwelt wird Kirchners Malweise sichtlich ekstatischer. Die Alpen giftig-grün, der Himmel magisch blau-violett. Er reist kaum noch nach Deutschland; Pessimismus und Depressionen quälen ihn. Seine internationalen Erfolge, Ausstellungen in Bern, Basel und Detroit, sind überschattet von deutscher Kulturbarbarei: Dass die Nationalsozialisten ihn zum sogenannten "Entarteten Künstler" erklärt haben, kann er nicht verstehen, geschweige verarbeiten. Eine Heirat mit seiner langjährigen Freundin Erna Schilling verschiebt er immer wieder. Schließlich, auf einem Spaziergang am 15. Juni 1938, schießt er sich mit seiner Browning ins Herz. Lucius Grisebach:

    "Wenn man seine künstlerische Entwicklung verfolgt, kann man sagen, dass er damals an einem Ende war, … und hat wieder ganz figurative, sehr viel gegenständlicher in gewisser Monumentalisierung gemalt."

    Ernst Ludwig Kirchners malerisches und grafisches Vermächtnis aus dieser Zeit strahlt – anders als die kraftstrotzenden Anfänge – Ruhe und Bescheidenheit aus. Im "Davoser Tagebuch" schreibt er:

    "Alle Kunst kommt vom Menschen her. Die Kunst sucht nach kurzen, klaren Zeichen, nach Hieroglyphen, die noch weit genug sind, den Reichtum der malerischen Visionen zu fassen. Ihre Formen bilden sich aus der Sinnlichkeit, der lebendigen Liebe zum Leben."