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Schösser

Finthammer: Herr Schösser, in dieser Woche gab es zwei zentrale Themen, die Sie einerseits als Gewerkschafter, auf der anderen Seite auch als Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion besonders betreffen. Da wurden die Eckpunkte für die Konsensgespräche in der Gesundheitsreform verabschiedet, aus Sicht der Linken in der SPD und vieler Gewerkschafter Eckpunkte, die im Wesentlichen zu Lasten der Versicherten gehen. Auf der anderen Seite gab es eine vorläufige Einigung in der Auseinandersetzung in der IG Metall, was auch viel mit der Gewerkschaftsbewegung, mit der Zukunft der Gewerkschaftsbewegung zu tun hat. Schauen wir aber zuerst einmal auf die Gesundheitsreform. Welche Punkte dieser Konsenseckpunkte stören Sie im Wesentlichen?

Volker Finthammer |
    Schösser: Nun, in Wesentlichen stört mich, dass nichts getan wurde, um das Gesundheitswesen wirklich kostengünstiger zu machen, um es in seinen Strukturen effizienter zu machen, damit tatsächlich am Ende die Versicherten und die Kranken einen Vorteil haben. Um was es bei den Konsensgesprächen in erster Linie ging, war: Wie bekomme ich optisch den Beitrag in die gesetzliche Krankenversicherung runter auf 13 Prozent. Man sagt den Leuten, sie würden künftig nicht mehr 14/15 Prozent Beitrag bezahlen, sondern nur 13, man verschweigt ihnen aber ganz deutlich, dass es Leistungsauskürzungen gibt und gab und geben wird, die im Grunde mehr kosten werden als die Differenz zwischen 13 Prozent künftiger Beitrag und bisherigem Beitrag von 14,5 oder 14,6 Prozent. Am Ende sind die Versicherten die Gelackmeierten, weil sie die Leistung, die bisher der Arbeitgeber erbracht hat, mitfinanzieren müssen.

    Finthammer: Nun war aber im Vorhinein schon klar, dass es keine Reform geben wird, bei dem die Versicherten am Ende günstiger wegkommen werden als vorher. Wir leben in einer alternden Gesellschaft, in der immer mehr Gesundheitsleistungen in Anspruch genommen werden. Gibt es denn unter diesem Gesichtspunkt Punkte in dem Konsenspapier, die Ihnen auch zusagen, wo Sie sagen: Ja, das kann man so mittragen?

    Schösser: Nun, es ist richtig, wir sagen: Gesundheit ist unser größtes Gut. Und die politische Antwort, die es darauf gibt im Augenblick, heißt: Aber sie darf nur 13 Prozent kosten. Und das ist eigentlich unlogisch. Nun, welche Punkte sagen mir einigermaßen zu? Ich muss lange suchen im Katalog, bevor ich da was finde. Aber es gibt ganz kleine Ansätze im strukturellen Bereich, nämlich für die Krankenkassen doch ein wenig etwas zu tun im Vertragsrecht, dass man nicht mehr nur abhängig ist von den Kassenärztlichen Vereinigungen und sich mehr oder weniger von ihnen diktieren lassen muss, was es an Honoraren für die Ärzte gibt, ohne da wirklich als Bezahler der Leistung eingreifen zu können und zu sagen: ‚Liebe Kassenärztliche Vereinigung, Ihr müsst Euch kostenmäßig anders verhalten’. Ich bringe es ganz gerne auf den Punkt in diesem Bereich – dass man bei den Kassenärztlichen Vereinigungen heute wie zukünftig sagen muss, dass das gilt, was normalerweise für das Training eines Hundes gilt: Einem satten Hund bringt man keine neuen Tricks bei. Und die Ärzteschaft und die Leistungserbringer im Gesundheitswesen sind zum großen Teil zu gesund.

    Finthammer: Da sind Sie schnell wieder von dem Positiven in die Kritik gestoßen. Noch ist das Gesetzgebungsverfahren ja noch gar nicht begonnen. Wo sehen Sie denn aus Ihrer Sicht zentrale Punkte, aus denen aus der Sicht eines linken SPD-Abgeordneten – aus Sicht der SPD generell – noch nachgebessert werden müsste im kommenden Gesetzgebungsprozess?

    Schösser: Nun, in erster Linie nagen wir natürlich nach wie vor schwer an der Frage, dass das Krankengeld nicht mehr in der paritätischen Finanzierung sein soll. Es ist meines Erachtens nicht nachvollziehbar, warum Versicherte dafür allein aufkommen sollen. Und das Gleiche gilt, was die CDU/CSU im Wesentlichen in die Verhandlungen eingebracht hat, für den Zahnersatz. Sie müssen sich vorstellen: Es gibt Menschen, die heute 50, 60 Jahre alt sind, die sich über 30, 40 Jahre Beitragszahlung darauf verlassen haben, wenn sie ein geschädigtes Gebiss haben, dass sie im Grunde auch damit rechnen können, wenigstens eine ansehnliche Teilerstattung durch die Krankenkasse zu erhalten. Im Übrigen: Die Frage der Vorsorge war natürlich auch vor 30, 40 Jahren nicht so ausgeprägt wie heute. Also insofern lässt man diese Menschen, die Beitrag bezahlt haben über viele Jahre, die bisher in Treu und Glauben auch der Auffassung waren, der Zahnersatz sei abgesichert – man hinterlässt sie schlicht und einfach dann jetzt in eine Situation, dass sie im Zweifel für den Zahnersatz komplett voll selbst aufkommen müssen. Und es gibt strukturell einen zweiten Bereich, der mich sehr stört. Bisher war der Patient, beim Zahnarzt zum Beispiel, geschützt dadurch, dass, wenn er Zahnersatz brauchte, er im Grunde eine Kostenkalkulation verlangt hat vom Zahnarzt, die er zu seiner Krankenkasse gebracht hat, und die Krankenkasse hat sozusagen für ihn Spreu vom Weizen getrennt. Sie hat nämlich das getrennt, was zwar aus irgendwelchen Gründen durchaus zusätzlich schön ist, aber medizinisch nicht notwendig und erforderlich. Und wir wissen: Viele Zahnärzte gehen her und schwatzen ihren Kunden relativ viele Leistungen auf, um den Umsatz in ihrer Praxis zu steigern. Und davor ist meines Erachtens künftig der Versicherte nicht mehr geschützt.

    Finthammer: Kommen wir zurück auf die politische Ebene, auf den politischen Gestaltungsprozess. Sehen Sie da noch Möglichkeiten, da einzugreifen, das zu ändern? Oder glauben Sie, Sie werden auch in dieser Frage, wie jüngst bei der Agenda 2010 in einigen Punkten, dann doch den Kürzeren ziehen?

    Schösser: Nun, es wird schwer sein, gegen eine Position, die ja in einer Art großen Koalition jetzt verhandelt wurde, da gegen den einen oder anderen Punkt noch anzustinken. Aber ich könnte natürlich mein Mandat an den Nagel hängen, wenn ich nicht der Auffassung wäre, dass, solange das Gesetz nicht beschlossen ist, auch Möglichkeiten existieren müssen, gute Argumente einzubringen und im Zweifel auch noch mal in dem einen oder anderen Punkt Nachdenkenswertes auszulösen und Änderungen dadurch zu bewirken. Also, ich sag es noch mal: Wenn alles jetzt von wenigen Leuten einfach auf einem Papier steht und beschlossen ist, und 600 Abgeordnete dann nur noch ‚Stimmvieh’ sind, dann ist es eigentlich nicht im Sinne einer funktionierenden Demokratie. Insofern muss man – und darf – den Glauben nicht daran verlieren, dass man im politischen Gestaltungsprozess, also im Gesetzesverlauf, doch noch etwas bewirken kann.

    Finthammer: Aber nüchtern betrachtet könnte ich da den Bundeskanzler Gerhard Schröder zitieren. Der hat gesagt: Es darf aber an der Agenda 2010 Änderungen im Detail geben! Das könnte ich jetzt genau so gut auf die Gesundheitsreform übertragen. Da wird es möglicherweise noch die eine oder andere Änderung am Detail geben, an den grundsätzlichen Problemen aus Ihrer Sicht, wie Sie sie formuliert haben – der Ausgliederung des Zahnersatzes und der Privatisierung des Krankengeldes –, dürfte es aber keine Änderung mehr geben.

    Schösser: Ja, schauen Sie mal: Wer sich so sehr in der Beschlussfassung auf die Agenda 2010 beruft, der muss natürlich jetzt auch bekennen und sagen: Mit der Koalitionsvereinbarung im Rahmen einer All-Parteienposition zum Gesundheitswesen haben wir eine Situation, dass die SPD die Agenda 2010 längst verlassen hat. In der Agenda 2010 steht nicht, dass der Zahnersatz künftig aus der paritätischen Finanzierung ausgegrenzt werden soll. Also, ich bin nicht derjenige, der im Augenblick Parteitagsbeschlüsse verlässt. Und Sie sehen: Gestaltungsprozess gibt es; es gibt sozusagen das letzte Wort in der Politik nie, weil es die letzte Wahrheit in der Politik nie geben wird.

    Finthammer: Sie haben zu Beginn unseres Gesprächs beklagt, dass im Wesentlichen die Versicherten die Leidtragenden dieser Reform sind. Nun geht die Diskussion ja noch weiter. Es ist allen Beteiligten klar, dass die jetzige Reform nicht der letzte Stand in der Gesundheitsvorsorge bleiben kann, und es wird seit Tagen intensiv die Diskussion über eine Bürgerversicherung geführt. Das könnte doch möglicherweise ein Angebot sein, das Ihnen sehr entgegenkommt, weil die Finanzierung des Gesundheitswesens, eventuell auch der Altersvorsorge, damit auf eine breitere Basis gestellt werden würde.

    Schösser: Die Gewerkschaften haben bereits vor 30, 40 Jahren zwei Begriffe in die Diskussion eingebracht, wie Sozialversicherungskosten finanziert werden sollen, weil wir damals schon der Auffassung waren: Irgendwann wird die Ausgangsbasis Lohnsumme dafür nicht ausreichen. Wir haben damals die Begriffe geprägt: Maschinensteuer und Wertschöpfungsabgabe. Und insofern sind wir eigentlich die Vorreiter für solche Reformen. Leider haben wir vergessen über die letzten 20, 30 Jahre, diese Gedanken zur Maschinensteuer und zur Wertschöpfungsabgabe wirklich inhaltlich auszugestalten. Das waren sozusagen verbale Positionierungen der Gewerkschaftsbewegung, im Wissen: Das wird auf der Basis von Lohnsummen, wenn andere Einkommensbereiche – gemessen am Bruttosozialprodukt – steigen werden, wie beispielsweise Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung, aus Zinsen, aus Spekulationsgewinnen und so weiter und so fort, dass das nicht gutgehen kann, wenn andererseits der Anteil für die Ausgaben an den Sozialversicherungskosten – gemessen am Bruttosozialprodukt – gleich bleiben oder sogar steigen. Also, insofern werden sich die Gewerkschaften an einem Prozess, eine breitere Basis für die Solidarität zu erzielen, immer beteiligen. Wie das am Ende genau aussehen wird, was man da akzeptieren und was man nicht akzeptieren kann, darüber wird man noch reden müssen. Eines wird nicht machbar sein – dass am Ende eine Bürgerversicherung die Erwerbseinkommen ein weiteres mal stark belastet, während man auf der anderen Seite den Bereich des Kapitals und den Bereich der Kapitaleinnahmen völlig außen vorlässt. Also, das ist eine Grundbedingung bei der Ausgestaltung einer Bürgerversicherung oder einer Erwerbstätigenversicherung, dass es zu einem Gleichgewicht von Belastung zwischen Kapital und Arbeit kommt.

    Finthammer: Glauben Sie, dass es in der deutschen politischen Diskussion – dass sie sich dahin gehend entwickelt, dass wir insgesamt stärker auf eine Bürgerversicherung zusteuern, oder könnte es nicht auch möglich sein – es gibt starke Motive, starkes Drängen aus den Reihen der Union, selbst aus Teilen der SPD –, dass man solch ein Modell wie ‚Kopfprämien’ in der Gesundheitsvorsorge einführen würde?

    Schösser: Also, von den Kopfprämien zu reden heißt – ein Versuch, im Grunde die Arbeitgeber noch stärker von der Mitfinanzierung der Sozialversicherung zu entlasten und – ich sage einmal – Erwerbseinkommen generell stärker zu belasten. Und es gibt eine Unwuchtigkeit, eine zusätzliche Ungerechtigkeit im System selbst. Es ist zwar den ganz Einfachen vielleicht ein wenig geholfen und es ist dem hohen Einkommensgänger geholfen, aber dem großen ‚Mittelbauch’ der Facharbeiter, die werden – ich sage mal – am stärksten zur Brust genommen. Und insofern scheint mir ein Kopfprämienmodell alles andere als gerecht zu sein. Im Übrigen: Es ist sehr kompliziert, weil – die Kopfprämienmodelle spielen alle zurück, über die Bande, über die Steuern, und insofern scheint mir das, sowohl was die Umstellungskosten und den Umstellungsweg anbetrifft als auch was die Kompliziertheit des Systems anbetrifft, kein geeigneter Weg für die Zukunft zu sein.

    Finthammer: Sie haben vorhin vom Gestaltungswillen, von der Gestaltungsmacht der Gewerkschaften gesprochen. Haben denn die Gewerkschaften nicht in letzter Zeit enorm unter dem personellen Streit in der IG Metall gelitten und einen gewaltigen Imageverlust erlitten?

    Schösser: Ich darf an der Stelle doch ein wenig länger ausholen, weil – man kann natürlich heute hergehen und kann alles auf diesen personellen Konflikt innerhalb der IG Metall schieben. Dass die Gewerkschaften in der Situation sind, in der sie heute sich befinden, hat aber meines Erachtens tiefere Ursachen, und das liegt auch schon eine längere Zeit zurück. Wir haben uns 1998 vor der Bundestagswahl sehr erfolgreich geschlagen. Wir sind mit unseren inhaltlichen Positionen im Trend gewesen . . .

    Finthammer: . . . in der Hoffnung auf einen Regierungswechsel . . .

    Schösser: . . . nicht so sehr in der Hoffnung auf einen Regierungswechsel, unsere Zielsetzung damals war ein Politikwechsel, der, nachdem Kohl kandidiert hatte, eigentlich nur über einen Regierungswechsel gehen konnte. Da haben Sie völlig recht. Aber wir waren ausgesprochen stark bis zur Bundestagswahl hin. Wir haben nicht nur dazu beigetragen, dass sich die politischen Mehrheitsverhältnisse verändert haben. Wir haben auch dazu beigetragen, dass ureigene gewerkschaftliche Positionen hoffähig geworden sind in der Politik. Wir haben einen Fehler gemacht, den die Arbeiterbewegung in ihrer Geschichte öfter gemacht hat: Wir haben den Fehler gemacht, dass wir mit dem – Anführungszeichen – ‚Wahlerfolg der Sozialdemokratie’ unsere politischen Waffen weggeworfen haben. Wir haben unsere Kampagnen beendet, wir haben aufgehört, für unsere Vorstellungen zu werben. Und das Arbeitgeberlager hat sehr geschickt dieses Vakuum genutzt und hat im Grunde lang anhaltende, nachhaltige Aktionen in die Landschaft gesetzt, wie beispielsweise die Aktion ‚neue soziale Marktwirtschaft’, ‚eine Chance für alle’, eine Kampagne der Arbeitgeber in Bayern über 100 Tage Anzeigen in der Bildzeitung, im Bürgerkonvent. Also, ich nenne hier nur einige Positionen, wo Konservative und Neo-Liberale versucht haben, die öffentliche Meinung zu besetzen. Und wir laufen heute hinter dieser neuen öffentlichen Meinung ein Stück mit unseren Positionen hinterher. Das heißt aber nicht, dass unsere Positionen deswegen falsch geworden wären. Wir werden feststellen, dass sowohl das Akutprogramm von Herren Stoiber als auch die Agenda 2010 von Gerhard Schröder am Ende nichts anderes sind als heiß abgekochtes Wasser, wo am Ende nicht mehr Arbeitsplätze rauskommen und am Ende auch nicht ein Aufschwung der Wirtschaft steht.

    Finthammer: Aber haben sich da die Gewerkschaften – gerade in dieser Hinsicht – nicht in jüngster Zeit auch ein gutes Stück weit überschätzt? Man wollte dem Kanzler mit einem ‚heißen Mai’ begegnen und ihm die Agenda 2010 quasi öffentlich ‚um die Ohren hauen’. Draus geworden ist aber wirklich ein ‚kaltes Lüftchen’. 90.000 Gewerkschaftler haben bundesweit demonstriert, das ist nicht mal ein Hundertstel Ihrer gesamten Gewerkschaftsmitglieder. Insofern hat man sich doch ein gutes Stück weit selbst überschätzt, und die Gewerkschaftler zählen, wie die SPD-Linke, die auf dem SPD-Sonderparteitag abgestraft wurde, jetzt zu der Gruppe derjenigen, die als Minderheit in dieser Republik gegen die Reformbereitschaft dastehen.

    Schösser: Nun, eine Minderheit in der SPD sind wir schon seit längerer Zeit, das ist nur nicht so offenkundig geworden. Wenn man sich das mal genau betrachtet, ist es für die Gewerkschaftler schon seit einigen Jahren sehr schwer, innerhalb der Volkspartei SPD Boden zu gewinnen. Im Übrigen ist das ein Grund, dass ich Gewerkschaftlern anrate, nicht aus der SPD auszutreten sondern in die SPD einzutreten, dort gewerkschaftliche Positionen klarzumachen. Es wäre absolut verkehrt, im Augenblick zu sagen: Wir wollen mit dieser Partei nichts mehr am Hut haben. Es treten ja auch eine ganze Reihe von Gewerkschaftsleuten aus, sowohl ehrenamtliche als auch hauptamtliche Funktionäre und Mitglieder. Also, das scheint mir ein sehr unpolitischer Weg zu sein, den ich nicht für gut heiße. Ich sage das mit aller Klarheit. Zum Zweiten – um zu den Demonstrationen am 24. Mai zurückzukehren: Ich sehe das ähnlich wie Sie. 90.000 sind natürlich für eine wirkliche Protestbewegung viel zu wenig. Aber das hängt damit zusammen, was ich versucht habe, eben zu schildern, nämlich dass die veröffentlichte Meinung darauf abzielt, man müsste nur länger arbeiten, man müsste die Armen – also die Arbeitslosen, die Kranken und die Rentner – nur mehr ‚zur Brust nehmen’, und alles würde sich wie auf wundersame Weise erledigen und wir hätten sozusagen blühende Landschaften in Ost wie West, und die Wirtschaft würde Aufschwungraten haben, die nahezu nicht wieder zu erkennen sind. So ist die Welt nicht. Wir sind vom Export abhängig, wir setzen uns dort interessanterweise noch am besten durch – die Exportraten sind hervorragend. Sicherlich werden sie ein wenig gedämpft in den nächsten Monaten durch die Neubewertung Euro gegenüber dem Dollar, das macht mir durchaus Sorgen. Aber wir werden diese Fragen der internationalen Verwerfung, der Globalisierung, nicht mit dem Sparen bei Rentnern, bei Kranken und bei Arbeitslosen in den Griff bekommen.

    Finthammer: Dennoch bleibt die Tatsache, dass die Gewerkschaften in den letzten Monaten zumindest kaum noch jemand in der Öffentlichkeit richtig erreicht haben. Und offenbart denn da die personelle Auseinandersetzung in der IG Metall nicht auch einen Richtungsstreit, dem die Gewerkschaften unterliegen – auf der einen Seite ein Modernisierungslager, das von vielen Mitgliedern getragen wird, auf der anderen Seite – ich sage mal – das konservative, beharrende Funktionärslager, das mit dem Versuch, eine andere Politik zu wollen, letztlich dann doch nicht mehr bei den eigenen Mitgliedern ankommt?

    Schösser: Jetzt will ich mal versuchen, Ihnen an einem kleinen Beispiel über die beiden Personen Peters und Huber zu verdeutlichen, wer ist jetzt eigentlich der ‚Betonmensch’ und wer ist der Modernisierer und Reformierer. Peters hat in seiner Zeit, als er Bezirksleiter war in Niedersachsen, einen Tarifvertrag gemacht mit VW. Das war der Tarifvertrag zur 26-Stunden-Woche und zur gerechteren Teilung der Arbeit. Er ist damals gelobt worden als Modernisierer, als jemand, der einen neuen Weg geht, also als derjenige, der der Zukunftsmann – der moderne Zukunftsmann der Gewerkschaftsbewegung ist. Huber hat immer in Baden-Württemberg auf den Flächentarifvertrag geschworen. Im Übrigen: VW hat einen Haustarifvertrag, wie Sie wissen. Huber schwört immer in Baden-Württemberg auf den Flächentarifvertrag, der eigentlich den Betonköpfen zugeschrieben wird, also denjenigen, die es nicht begreifen, dass sich Flächentarifverträge angeblich überlebt hätten. Also, wer ist nun der Modernisierer und wer ist der Betonkopf? Man ist schnell sortiert in der Öffentlichkeit. Aber ich glaube, die beiden Figuren – wie die beiden Lager, die man da ausmacht innerhalb der IG Metall – sind nicht so weit auseinander. Was uns fehlt, ist der Erfolg. Und ich will es vor allem an der Niederlage zur 35-Stunden-Woche im Osten noch mal festmachen. Dass das natürlich Diskussionen in einer solch großen Bewegung auslöst, weil man eigentlich immer erwartet hat, man geht in eine Tarifbewegung hinein und geht erfolgreich hinaus. Dass man in eine Tarifbewegung hineingehen kann und verlieren kann, das ist für viele Mitglieder nicht mehr denkbar gewesen. Aber solche Situationen, wie man sieht, können entstehen. Zum letzten mal hatten wir die 1954 in Bayern. Da war ich zwar erst sechs Jahre alt oder sieben und kann mich natürlich persönlich nicht dran erinnern, aber lange war das ein Trauma für die bayerische Gewerkschaftsbewegung. Und erst, als der erfolgreiche Tarifkurs gesteuert werden konnte in Bayern in der zweiten Hälfte der 90er Jahre, ist vergessen worden, welche Schmach man 1954 einstecken musste.

    Finthammer: Schauen wir mal auf die Erfolge. Nun sind Sie ja nicht nur Gewerkschaftschef, sondern auch linker Abgeordneter innerhalb der SPD-Fraktion. Und wir hatten vorhin schon erwähnt: Zweimal mussten Sie Niederlagen in diesem Jahr quasi hinnehmen – einmal auf dem Sonderparteitag der SPD, zum anderen, wie gesagt, mit den verkorksten Bemühungen der Gewerkschaft, da einen Widerstand ins Feld zu führen. Nun will die Sozialdemokratie im Herbst auf dem Parteitag im November eine neue Gerechtigkeitsdebatte führen. Da fielen dann auch solche Stichworte wie Reform der Erbschaftssteuer oder sogar der Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Glauben Sie, dass das eine wirklich ernsthafte Diskussion sein wird – oder nicht doch ein Trostpflaster des Bundeskanzlers, um die Linken in der SPD nicht ganz zu vergrätzen? Schösser: Also, erst einmal muss man ganz klar und deutlich sagen: Weder die Erbschaftssteuer noch die Vermögenssteuer werden die Probleme lösen, die wir haben. Es geht hier um die Frage von Gerechtigkeit in einer Situation, wo der Staat sicherlich, was seine Finanzen anbetrifft, was die nach wie vor unbewältigten Prozesse der deutsch-deutschen Einigung anbetrifft, vor großen Aufgaben steht – und wo er eigentlich längst Geld in die Hand nehmen müsste, um wichtige Investitions-Entscheidungen, wichtige Strukturentscheidungen zu begleiten, damit wir da schneller aus dem Schlamassel rauskommen. Dafür hat er kein Geld. Jetzt muss er natürlich, wenn er was bewegen will, wenn er was verändern will, die Bürger heranziehen. Aber dann ist schon die Position, dass man das einigermaßen gerecht macht und nicht auf der einen Seite eine Steuerreform, wo man den Spitzensteuersatz von 48,5 Prozent auf 42 Prozent absenkt – im Übrigen mit einem Aufwand von 5,2 Milliarden Euro, für die man dann bereit ist, Schulden aufzunehmen, sondern dass man auch dran denkt: Wie leisten die einen Beitrag, die Vermögen haben, die Reichtum haben, aber sich weitgehend bisher schadlos gehalten haben, sich an den Finanzierungskosten für die deutsch-deutsche Einigung zu beteiligen.

    Finthammer: Höre ich daraus, dass das Vorziehen der Steuerreform ein falscher Schritt ist, weil es zu sehr die oberen Einkommensklassen entlastet?

    Schösser: Das Vorziehen der Steuerreform ist ein richtiger Schritt. Ich würde aber ausklammern die Absenkung des Spitzensteuersatzes, weil es tatsächlich ein Geldverschleudern an Reiche ist, deren Steuern man dringend braucht, um Schulden abzubauen. Und es wird niemanden – ich sage mal – eingängig sein unter Gerechtigkeitsempfinden, dass wir bei den Kranken sparen und da Zuzahlungen verlangen, dass wir die Besoldung bei Beamten im unteren Beamtenbereich absenken und dass wir hergehen und im Grunde ältere Arbeitnehmer in der Alterssicherung ordentlich zur Brust nehmen wollen. Das hat eben nichts mehr mit Ausgewogenheit und sozialer Gerechtigkeit zu tun. Deshalb kann ich nur raten an dieser Stelle und ich werde mich dafür einsetzen in meiner eigenen Fraktion, dass dieser Unfug mit der Absenkung des Spitzensteuersatzes unterlassen wird.

    Finthammer: Das heißt, Sie setzen sich für eine Revision der Steuerreform in diesem Bereich ein? Schösser: Nun, wir haben ja noch keine Revision, wir reden ja noch nicht einmal über ein konkretes Gesetz. Wir reden darüber, dass einfach die Stufe 2005 vorgezogen werden soll auf den 1.1.2004. Warum soll es nicht denkbar sein, dass man nur einige Bereiche dieser für 2005 angedachten Steuerreform jetzt vorzieht und andere nicht –vor dem Hintergrund, dass man ja Schulden aufnehmen muss, um diese Steuerreform zu finanzieren. Und ich nenne Ihnen noch mal die Summe: 5,2 Milliarden Euro kostet das Absenken des Spitzensteuersatzes! Und ich höre, dass Eichel fünf bis sieben Milliarden Euro Schulden aufnehmen will, um die vorgezogene Steuerreform zu finanzieren. Ja, warum nehme ich denn Schulden auf, um den Stärksten in der Republik jetzt ein Steuergeschenk zu machen? Das ist für mich nicht nachvollziehbar, vor allem, weil ich nicht erkenne, was diese Starken in der Republik mit diesem Steuergeschenk machen werden, das uns wirtschaftlich und arbeitsmarktpolitisch nutzt.

    Finthammer: Für die kleinen Haushalte könnte es ja in dieser Hinsicht eventuell sogar noch weitergehen, denn der Finanzminister plant ja auch schon bei seinem Haushalt 2004 massive Streichungen, etwa bei der Eigenheimzulage, etwa bei der Pendlerpauschale. Hat die Regierung insgesamt unter dem Blickwinkel, unter dem Sie es gerade betrachtet haben, nicht dann doch ein Glaubwürdigkeitsproblem – auf der einen Seite eine hohe Neuverschuldung, um die Steuerreform vorzuziehen und auf der anderen Seite starke drastische Kürzungen, etwa bei der Eigenheimzulage oder etwa bei der Pendlerpauschale, um den Haushalt im kommenden Jahr finanzieren zu können? Schösser: Wir verlangen von den Arbeitnehmern, dass sie flexibel sind, dass sie durchaus bereit sind, um einen Arbeitsplatz aufnehmen zu können, sich über ein, zwei Stunden pro Tag vom Wohnort zur Arbeitsstätte begeben. Und es wäre meines Erachtens völlig falsch – auch was die Motivation anbetrifft –, Arbeitnehmer für diese Flexibilität zu bestrafen und ihnen jetzt die Pendlerpauschale zu streichen. Also bei der Pendlerpauschale bin ich mir relativ sicher, dass darüber noch mal diskutiert werden muss und dass die Streichung kontraproduktiv ist . . .

    Finthammer: . . . da hätten Sie mit Edmund Stoiber einen gewichtigen Mitstreiter neben sich . . .

    Schösser: . . . wir kommen beide aus einem Flächenland, und ich glaube, da werden politische Menschen, die für einen Flächenstaat zuständig sind, immer anders diskutieren als Vertreter eines Stadtstaates; da ist vieles einfacher. Zum Zweiten – bei der Eigenheimzulage: Da gehe ich ein wenig differenzierter ran an die Frage. Die Eigenheimzulage hat ja nicht gerade den Ärmsten geholfen. Die Eigenheimzulage war über viele Jahre ja ein Mitnahmeeffekt für diejenigen, die sich oft das Eigenheim hätten auch so finanzieren und leisten können. Viel wichtiger bei der Frage Eigenheim ist es deshalb, statt der blödsinnigen Diskussion – darf man die streichen oder darf man sie nicht streichen – dass die Banken die Möglichkeiten, die sie durch die Absenkung der Zinsen haben, wirklich an ihre Kunden weitergeben. Wenn der Zinssatz für Menschen, die ein Baudarlehn aufnehmen, nur um ein halbes Prozent geringer wird, dann ist auf die gesamte Laufzeit des Kredits damit mehr in der Tasche desjenigen, der ein Eigenheim baut, als durch die – ich sage mal – läppischen paar Euro, die es aus der Eigenheimzulage gibt.

    Finthammer: Das große politische Ziel der Bundesregierung mit all diesen Maßnahmen lautet ja, der Konjunktur spätestens im kommenden Jahr einen neuen Schwung durch eine größere Nachfrage zu geben. Glauben Sie, dass all diese Instrumente dazu ausreichend sind, der Konjunktur einen neuen Impuls zu geben?

    Schösser: Also, wenn wir von einem Impuls für die Binnenwirtschaft reden, dann glaube ich, sie reichen nicht aus. Wenn wir davon ausgehen und das mit einem Schuss ‚Prinzip Hoffnung’ versehen, dass die Exportmärkte wieder anziehen – insbesondere Amerika –, dann gehe ich durchaus davon aus, dass wir insgesamt eine bessere wirtschaftliche Situation haben werden als heute.