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Schottland-Referendum
"Unabhängigkeit wäre ein gewaltiger Sprung ins Ungewisse"

Der englische Hochschulprofessor Nicholas Martin kritisiert, die praktischen Folgen einer Unabhängigkeit Schottlands würden von der "Yes-Kampagne" bewusst beiseite gefegt - zugunsten eines emotionalen und undeutlichen Appells an den schottischen Nationalstolz. In einer globalisierten Welt sei das anachronistisch und fehl am Platz, sagte Martin im DLF.

Nicholas Martin im Gespräch mit Friedbert Meurer | 18.09.2014
    Auf einer Außentreppe stehen drei Unabhängigkeits-Befürworter mit Yes-Plakat und einem Banner mit Schotten-Karo.
    Bürger in der schottischen Stadt Linlithgow demonstrieren für die Abspaltung Schottlands. (picture alliance / dpa / Teresa Dapp)
    Als Beispiel für praktische Folgen nannte Nicholas Martin ein drohendes Währungschaos. Zudem seien Schottland und England wirtschaftlich fast untrennbar.
    Martin selbst ist Engländer und Direktor des Instituts für Deutschlandstudien an der Universität Birmingham. Er hat auch schon in Schottland gelehrt und glaubt nicht, dass die Mehrheit der Schotten heute für die Unabhängigkeit stimmen wird. Laut Martin ist die Frage der nationalen Identität für die meisten Engländer und Schotten zweitrangig. Man identifiziere sich eher mit seiner Heimatregion als mit einer Nation. Das "Konzept Brite" sei ziemlich abstrakt, auch für Schottland.
    Eine in der öffentlichen Diskussion häufiger angeführte Herablassung von englischer Seite gegenüber den Schotten erkennt Martin nicht. Die meisten Engländer fänden eine Trennung eher besorgniserregend, weil sie auch schwere wirtschaftliche Folgen für England hätte. Im Laufe der Kampagne zum schottischen Unabhängigkeitsreferendum habe sich das Verhältnis zwischen Engländern und Schotten aber verschlechtert. Beide Seiten seien misstrauischer geworden. Zudem habe die Kampagne auch in England das Bedürfnis nach größerer regionaler Autonomie wachgerufen, etwa für Birmingham oder Cornwall.

    Das Interview mit Nicholas C. Martin in voller Länge:
    Friedbert Meurer: Noch vor Jahr und Tag, da waren sich fast alle sicher: Die Abstimmung heute in Schottland über eine mögliche Unabhängigkeit, die erhält sowieso keine Mehrheit. Die Schotten scheren aus Großbritannien aus und machen ein Kleinbritannien daraus – außer einigen verwegenen Mitgliedern der SNP, der Scottish National Party, hätte das damals wohl fast niemand für möglich gehalten. Jetzt sind die Umfragen ganz knapp. Heute ist der Tag des Referendums.
    Jetzt bin ich verbunden mit Nick C. Martin, ein Engländer. Er ist der Direktor des Instituts für Deutschland-Studien an der Universität in Birmingham. Guten Tag, Herr Martin.
    Nicholas C. Martin: Guten Tag, Herr Meurer.
    "Drohendes Währungschaos bei Unabhängigkeit"
    Meurer: Die Queen hat ja den Schotten zuletzt noch geraten, gründlich nachzudenken. Sie haben mir vorhin gesagt, Sie gehen davon aus, die Schotten werden die Unabhängigkeit ablehnen. Warum glauben Sie, werden die Schotten auf die Unabhängigkeit verzichten?
    Martin: Aus Selbstinteresse vor allem, denke ich. Unabhängigkeit wäre für die Schotten ein gewaltiger Sprung ins Ungewisse, und vieles bleibt noch ungewiss. Um nur ein Beispiel zu nennen: In einem Papier namens "Schottland: Falsche Richtung" warnte die Deutsche Bank am vergangenen Wochenende vor einem drohenden Währungschaos, wenn Schottland unabhängig werde, denn wie Sie wissen, die Währung ist noch nicht gesichert.
    Meiner Meinung nach werden die praktischen Folgen einer Unabhängigkeitserklärung von der Yes-Kampagne bewusst beiseite gefegt zugunsten eines emotionalen und undeutlichen Appells an schottische Nationalgefühle und Nationalstolz, was in einer zunehmend globalisierten Welt mir etwas anachronistisch und fehl am Platze vorkommt, und nicht nur mir.
    "Frage der nationalen Identität ist für die meisten zweitrangig"
    Meurer: Sie selbst sind Engländer, Herr Martin. Sie haben auch in Schottland gelehrt als Professor, an der Universität St Andrews. Die entscheidende Frage ist natürlich: Was denken die Schotten? Fühlen sich viele Schotten nicht mehr als Briten?
    Martin: Ich glaube nicht. Aber ich muss dazu sagen, für die meisten Engländer sowie die meisten Schotten ist die Frage der nationalen Identität zweitrangig. Das heißt, man identifiziert sich eher mit seiner Heimatregion als mit der Nation, würde ich sagen.
    Meurer: Das wäre eine Parallele zu Deutschland. Fühlen Sie sich selbst sowohl als Engländer als auch als Brite und ist das ein Unterschied?
    Martin: Ich fühle mich in erster Linie als Londoner, dann zweitens Engländer und drittens Brite. Und das Konzept Brite ist ziemlich abstrakt, würde ich sagen, auch für Schotten und auch für Engländer. Aber Sie erwähnen das Beispiel Deutschland. Ich denke, ich könnte den Spieß umdrehen und Sie fragen, was verbindet Bayern und Rheinländer, oder Hamburger und Schwaben.
    "Engländer und Schotten sind wirtschaftlich gesehen fast untrennbar"
    Aber in unserem Fall: Wir wohnen seit 307 Jahren zusammen, Engländer und Schotten, in einem gemeinsamen Haus sozusagen mit einer gemeinsamen Sprache, mehr oder weniger, Geschichte, Kultur und Tradition, und vielleicht wichtiger noch sind wir wirtschaftlich gesehen fast untrennbar.
    Meurer: Umso mehr fragt man sich hier in Deutschland natürlich: Ist das Verhältnis zwischen Schotten und Engländern so viel schlechter geworden in den letzten Jahren?
    Martin: In letzter Zeit, würde ich sagen. Ich denke, das Verhältnis im Laufe der Wahlkampagne hat sich verschlechtert. Diese Wahlkampagne ist auf beiden Seiten ziemlich schmutzig gewesen und leider sind beide Seiten, Yes und No, Engländer und Schotten, misstrauischer geworden.
    Meurer: Das heißt, selbst wenn die Unabhängigkeit abgelehnt wird und die meisten Schotten No sagen werden, dann werden einige Wunden zurückbleiben auf beiden Seiten?
    "Schmutzige Wahlkampagne auf beiden Seiten"
    Martin: Ja, ich denke schon, vor allem, wenn das No-Ergebnis nicht ganz klar ist. Stellen Sie sich vor, das Ergebnis 52 Prozent No, 48 Prozent Yes. Dann ist die Nation, also Schottland, immer noch gespalten. Und diese Kampagne hat auch in England den Wunsch nach größerer regionalen und lokalen Autonomie wachgerufen, größere Autonomie für Birmingham zum Beispiel oder für Yorkshire oder für Cornwall.
    Meurer: Auch andere wollen mehr Autonomie, wollen mehr Selbstbestimmung. Wir haben, ich glaube, gestern sogar eine neue Umfrage gelesen, wonach etwa ein Viertel der Engländer sagt, ist mir doch egal mit Schottland, sollen sie doch gehen. Gibt es auf englischer Seite so was wie eine Herablassung gegenüber Schottland?
    Martin: Ich glaube nicht. Einigen Engländern ist die Trennung, eine mögliche Trennung schon egal. Aber den Meisten ist eine Trennung von Schottland eher besorgniserregend, würde ich sagen, weil die Folgen eventuell ganz schwer auch für England sein würden. Und um ganz ehrlich zu sein: Diese 25 Prozent stecken einfach den Kopf in den Sand. Wie früher gesagt: Das englische Interesse im Allgemeinen an der Wahl in Schottland heute ist riesengroß.
    Die BBC zum Beispiel veranstaltet ein noch nie da gewesenes mediales Ereignis rund um diese Wahl, das auch in England auf große Resonanz stößt, und ich glaube, dass viele Engländer, wie ich zum Beispiel, die ganze Nacht fernsehen werden, wie das Ergebnis aussehen wird morgen Früh.
    "Wirtschaftliche Angst der Schotten vor Auswanderungswelle"
    Meurer: Sie kennen beide Seiten, Sie lehren im Moment an der Universität Birmingham in England, Sie haben in St Andrews in Schottland gearbeitet. Jetzt ist es so: In Schottland zahlen die Studenten keine Studiengebühren. Es ist umsonst wie in Deutschland. In England ist das ja radikal anders. Hier gibt es aus unserer Sicht irrwitzige Studiengebühren von 10.000 Euro im Jahr. Studieren eigentlich Schotten noch in England?
    Martin: Ja natürlich. Aber nur die Wohlhabenderen, würde ich sagen. Aber mit dieser Situation sind schottische Studenten in Schottland natürlich ganz zufrieden. Englische Studenten in Schottland, in St Andrews zum Beispiel, nicht. Aber es ist durchaus möglich, dass es nach einer eventuellen Unabhängigkeit zu einer großen Auswanderungswelle kommt, nicht nur von schottischen Studenten nach England, sondern auch von anderen hoch qualifizierten Menschen. Das ist eine wirtschaftliche Angst, die viele haben um dieses Wahlergebnis, wenn die Yes-Kampagne gewinnt.
    Meurer: Wenn schottische Studenten und englische Studenten zusammensitzen, wie funktioniert das gemeinsam?
    Martin: Sehr gut im Allgemeinen. Ich weiß nicht, wie die Gespräche in den letzten Tagen ausgesehen haben. Das ist schon eine ganz emotionale Frage und die Yes-Kampagne hat versucht, eine Monopolstellung für sich aufzurichten, indem sie sagen, kein richtiger Schotte würde Nein wählen.
    Meurer: Nick C. Martin, Direktor des Instituts für Deutschland-Studien an der Universität Birmingham, glaubt, dass es keine Mehrheit für die Befürworter der schottischen Unabhängigkeit gibt, aber es werden auf jeden Fall Wunden zurückbleiben. Herr Martin, danke schön und auf Wiederhören nach Birmingham.
    Martin: Auf Wiederhören, Herr Meurer.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.