Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Schrecken der Vergangenheit

Am 18. August 1966 begrüßte Mao Tsetung die Roten Garden auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Sie sollten die alte Kultur zerstören. Es war sein Versuch, Gegner in der Parteiführung beiseite zu räumen. Es folgt eine Zeit des Terrors, die bis heute tiefe Spuren im Land hinterlassen hat.

Von Mathias Bölinger | 13.08.2011
    Shen Ming blinzelt in die Sonne. Hinter ihr ragt eine Felswand auf. Ein paar Stufen weiter geht es hinauf zu einer großen Tempelhalle mit roten Türen und Holzsäulen. Am Hang stehen weitere Gebäude, ebenso aufwändig verziert wie die große Halle. Dort sitzt Shen Ming mit ihrer Freundin Meng Yunlian auf einem niedrigen Hocker.

    "Immer wenn Gläubige kommen, dann öffnen wir ihnen die Türen. Da oben ist unsere große Halle. Darin steht der Buddha Shakyamuni, der wichtigste Buddha. Und dort drüben in der Guanyin-Halle steht der Buddha der Wahrheit, natürlich steht dort Guanyin, die Barmherzige und der Buddha der Weisheit."

    Während Shen Ming spricht, lässt sie unablässig die hölzernen Perlen einer Gebetskette durch die Hände gleiten. Wie sich der Tempel an den Fels schmiegt, bunt gestrichen, sieht er so aus, als würde er schon seit Jahrhunderten hier stehen. Tatsächlich können die beiden alten Damen nicht mehr sagen, wann hier zum ersten Mal ein Tempel errichtet wurde, sie wissen nur, dass er zerstört und dann wiederaufgebaut wurde.

    "Der Tempel ist sehr alt, er hat eine sehr lange Geschichte."

    "Aber während der Kulturrevolution sind die roten Garden gekommen und haben hier alles kaputtgemacht. Das kann man heute kaum mehr glauben, aber sie sind einfach hergerannt und haben den ganzen Tempel in Schutt und Asche gelegt.."

    Beide tragen die Haare über ihren wettergegerbten Bäuerinnengesichtern halblang und gescheitelt, so wie es Mode wurde, als Chinas Jugend allem Althergebrachten den Kampf ansagte. Genau 45 Jahre ist es jetzt her, dass Mao Tse-Tung die Kulturrevolution ausrief und den Roten Garden den Auftrag erteilte, das Land zu verwüsten.

    Es ist der 18. August 1966. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking tritt ein kleiner alter Mann ins Rampenlicht, badet im Jubel der Menge: Mao Tsetung, mit einer Ballonmütze auf dem Kopf. Sein Stellvertreter Lin Biao ergreift das Wort. Er macht klar, was die Führung von der euphorisch gestimmten Menge – den hier versammelten Roten Garden - erwartet.

    "Wir müssen die alte Denkweise, die alte Kultur die alten Sitten und Gebräuche der herrschenden Klasse zerstören. Lasst uns diese Übel beseitigen und alle Hürden aus dem Weg räumen."

    Innerhalb des nächsten Monats durchsuchen die Roten Garden in Peking über 30.000 Wohnungen, Unzählige vermeintliche Volksfeinde werden durch die Straßen gejagt und öffentlich gedemütigt. Mehr als 1700 Menschen kommen dabei allein in Peking um.

    Auch das Dorf der beiden alten Frauen – im kargen Bergland der Provinz Ningxia, gut 1000 Kilometer von Peking entfernt – bleibt vom Terror der Staatsmacht nicht verschont.

    ""Die Roten Garden, das waren alles Leute von hier. Die großen Kader, die hat der Staat hergeschickt, um die Kulturrevolution zu organisieren, aber die Roten Garden die kamen von hier. Viele haben damals mitgemacht und viele Leute aus dem Dorf sind umgekommen."

    Ganz China versank damals im Terror. Die Roten Garden attackierten alles, was ihnen als "altes Übel" erschien. Selbst eine bestimmte Art, die Haare zu tragen, eine Dauerwelle etwa, konnte als Ausdruck eines bourgeoisen Lebensstils zu schwerer Folter führen. Und wer öffentlich nicht genügend Enthusiasmus für die Kulturrevolution aufbrachte, lief Gefahr als Reaktionär ins Gefängnis geworfen zu werden. Manche im Dorf hätten den Terror nicht ertragen, erzählen die beiden Alten. Sie hätten versucht, den Gelben Fluss, der nicht weit vom Dorf vorbeifließt, zu durchqueren und seien dabei ertrunken.

    Doch all das sei lange her. Nach der Kulturrevolution habe man zusammengelegt, um den Tempel wieder aufzubauen. Jeder habe ein wenig Geld gegeben. Sie selbst habe vor zehn Jahren, nach dem Tod ihres Mannes beschlossen, ihren Lebensabend im Tempel zu verbringen, sagt Meng Yunliang. Nun lebt sie in einem Seitengebäude der Anlage, steht jeden Morgen um fünf auf, um zu beten und verbringt den Tag mit der Pflege der Anlage. Sie hält die Gebäude sauber, räumt alte Weihrauchstäbe weg, stellt frische Blumen auf.

    ""Wir haben auch damals zu Buddha gebetet. Aber wir mussten sehr vorsichtig sein. Keiner hätte sich während der Kulturrevolution getraut, öffentlich zu beten. Aber zu Hause haben wir es dann heimlich gemacht."

    Obwohl Chinas Führung nach wie vor den Atheismus hochhält, obwohl Fotos von hohen Kadern beim Tempel- oder Kirchenbesuch nach wie vor tabu sind, akzeptiert die Regierung ein Wiederaufleben der Religion. In den großen Städten werden alte Tempel selbstverständlich als Touristenattraktion ausgewiesen. Zu Weihnachten müssen manche Kirchen den Gottesdienst per Videoschaltung in den Vorraum übertragen, so voll sind sie. Und in den muslimischen Dörfern im Nordwesten überragen selbstverständlich Minarette die flachen Backsteinhäuser.

    Doch die Staatsmacht stellt eine Bedingung:
    Alle Religionsgemeinschaften müssen die Vorherrschaft der Kommunistischen Partei akzeptieren. Für die beiden alten Damen stellt das kein Problem dar, trotz der schlimmen Erinnerungen an die Kulturrevolution.

    "Was Mao Tsetung gesagt hat, war nicht falsch. Seine Politik war gut. Nur die unteren Kader, die haben das alles falsch verstanden. "

    Inzwischen haben Shen Ming und Meng Yunlian ohnehin andere Sorgen. Plötzlich unterbricht das Rattern eines Schnellzugs die Stille in der Felsenlandschaft. Direkt zwischen Tempel und Straße hat die Regierung vor drei Jahren eine Bahnstrecke gebaut – und links und rechts davon einen Zaun aus Betonpfeilern. Einen Bahnübergang gibt es nicht, wer zum Tempel will, muss zuerst einige Meter auf einem Trampelpfad der Bahnstrecke folgen, und dann gebückt entlang eines Bachbetts unter einer kleinen Brücke hindurchschlüpfen.

    ""Wir haben hier immer viele Besucher gehabt. Die Leute kommen aus dem Dorf und auf der Straße kommen viele Autos und Lastwagen vorbei. Immer hat jemand angehalten, um zu beten. Aber seit sie diese Eisenbahngleise errichtet haben, kommen die Leute nicht mehr durch. Jetzt kommen nur noch wenige, um hier zu beten."

    Doch dann lacht sie. Die Roten Garden haben es nicht geschafft, sie vom Beten abzubringen. Eine Eisenbahn wird es auch nicht tun.