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Schreckenstexte

Auch heute, ein Vierteljahrhundert nach diesem wilden und riskanten Leben, gleicht der Sound, das Gemisch also aus Sprache und Dramaturgie in den Stücken des Bernard-Marie Koltès, in besseren Aufführungen einem Überfall; keine Stimme seither klang im Theater so wie seine.

Von Michael Laages | 07.02.2010
    Koltès-Figuren sprechen ungekünstelt, grob und geradeaus auf die Dinge zu – und doch ist alles, was durch ihr Sprechen beschrieben wird, pure Erfindung, nichts als Phantasmagorie; sie klingen zuweilen unendlich banal, und doch wuchert aus dem Zusammenklang blanke, rohe, ungeschliffene Poesie. Das hatte Koltès so gewollt: den Sound des Alltäglichen als Kollektiv von Stimmen wie zum Beispiel in Blues oder Jazz. Auch dort spielt beinahe jeder und jede die eigene Stimme vor allem und zuallererst allein; und auch Koltès schrieb im Grunde stets Monologe, die sich nur gelegentlich kreuzen – der Sound entsteht im Nebeneinander.

    Andrea Breths Inszenierung von "Quai West" beginnt denn auch im Dunkeln, also nur mit Stimmen; und auch später tauchen manche Figuren nur wie Schattenrisse auf vor den halb durchsichtigen Vorhängen wie aus Milchglas, mit denen Erich Wonder die Bühne meist hinten und manchmal auch nach vorn begrenzt. Aus diesem dauernden Nicht-Licht werden dann aus dem Nicht-Raum einzelne Personen per Schlaglicht hervor geholt, grell und schnell, bevor sie sich wieder verlieren im Schatten dieser Halbdunkelkammer. Diese Behauptung von An- und Abwesenheit zugleich, diese Geisterbeschwörung ist der zentrale ästhetische Impuls dieser für alle Beteiligten anstrengenden Aufführung; die Story tritt demgegenüber in den Hintergrund.

    Sie existiert ohnehin nur als Fragment, und wirklich nacherzählbar im Zusammenhang ist sie auch nicht – da ist der Bankier, der an den Quais von Manhattan den Tod sucht, weil er offenbar in fortgeschrittenem Alter noch einmal ein hohes Risiko eingegangen ist und Kundengelder veruntreut hat. Mit der Sekretärin irrt er durch die Lagerhalle.

    Die Jackentaschen hat er sich mit Steinen füllen und so im East River versinken wollen; während die Sekretärin immerhin noch wissen will, wohin die ganze Kohle verschwunden ist. Von einem der Ausgestoßenen, die in dieser Halle vegetieren, wird der Bankier dummer-weise gerettet - und erst später erschossen, nachdem der greise Vater einer versprengten Hispano-Familie, die gleichfalls in der Halle nistet, eine alte Kalaschnikow ins Spiel gebracht hatte. Immer wieder fügen sich ganz unvermittelt Lebens- und Sterbenslinien zueinander; die Sekretärin lässt sich auf schnellen Sex ein mit dem Sohn der Familie, deren Tochter wiederum mit einem anderen Finsterling, bevor sie sich dem eigenen Bruder als Liebhaberin anbietet. Nichts hat wirklich miteinander zu tun, aber alles hängt irgendwie miteinander zusammen.

    Darüber schwebt finstre Philosophie, wie Koltès sie dem greisen Alten in den Mund legt – für das eigene Leben müsse immer ein anderes getötet werden, wegen des Gleichgewichts der Welt; nötig aber sei mehr:

    Schreckenstexte sind das, das Gesetz der Welt, wie es bei Koltès regiert, drängt immer zum Tode. Das starke Burgtheater-Ensemble, von Andrea Clausen über Elisabeth Orth bis zu Hans Michael Rehberg, Sven Eric Bechtolf, Philip Hauß und Nicolas Ofczarek, schlägt sich mit Andrea Breth mutig und kraftvoll durch dieses Dickicht der Städte, wo sie am verlassensten sind. Die Zeit für den Dramatiker Koltès war kurz – und vielleicht ist sie ja heute erst gekommen.